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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

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Heft 10 (Juliheft 1923)
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Von Bernard Shaw
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0171

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lähmte auch mauchen andern Willen. Seit er die zufällige Auslese als
den Schöpfer und Herrscher des Weltalls hingestellt hat, ist die wissenschaft-
liche Welt die wahre Hochburg der Dnmmheit und der Grausamkeit. So
furchtbar der Stammgott der Hebräer auch war, schauderte doch niemand,
wenn er an dessen kleinstem und lbescheidenstem Bethel oder dessen stolzestem
Kriegstempel vorbeiging, so wie wir jetzt schaudern, wenn wir an einem
physiologischen Laboratorinm vorbeigehen. Wenn wir den Priester fürch-
teten und ihm mißtrauten, konnten wir ihn uns doch wenigstens fernhalten.
Doch was sollen wir mit dem modernen darwinistischen Chirurgen machen,
den wir zehnmal mehr fürchten und dem wir zehnmal mehr mißtrauen, aber
in dessen Hände wir uns doch von Zeit zu ZeiL begeben müssen? So schlimm
die Religion auch erniedrigt worden war, verkündete sie doch zum mindesten,
daß unsere gegenseitige Beziehung die einer Gemeinschaft sei, in der wir
alle gleich und vor dem Richterstuhl unseres gemeinsamen Vaters Glieder
eines Stammes seien. Der Darwinismus verkündete, daß unser wahres
Verhältnis das von Konkurrenten und Kämpfern in einem Kampf um das
bloße Aberleben sei, und daß jede Handlung des Mitleids oder der Loya-
lität der alten Gemeinschaft gegenüber ein vergeblicher und schädlicher Ver--
such sei, die Strenge des Kampfes zu lindern und untergeordnete Varie-
täten vor den Bemühungen der Natur, sie auszurotten, zu bewahren. Sogar
in sozialistischen Vereinigungen, die nur vorhanden waren, um -urch das
Gesetz der Gemeinschaft das Konkurrenzgesetz zn verdrängen und die Methode
der Vorsorge und Weisheit an die Stelle der Methode zu setzen, jählings
von steiler Höhe hinabzustürzen, wurde ich als Lästerer und unwissender
Gefühlsmeier angesehen, weil ich niemals, wenn die neo-darwinianische
Lehre dort verkündet wurde, den Versuch machte, meine intellektuelle Ver-
achtung für ihre blinde Roheit und ihre seichte Logik und meinen natür»
lichen Abscheu vor ihrer ekelerregenden Unmenschlichkeit zu verbergen.

Die homöopathische Reaktion gegen den Darwinismus

^cvrenngleich den Russen, unseren Nihilisten, durch die brutale Macht der
^^chteigenden Löhne, die niemals mit den steigenden Preisen gleichen
Schritt halten, die Aberzeugung aufgezwungen wird, daß sie durch die natür-
liche Auslese der Vernichtung geweiht sind, so werden sie sich vielleicht
daran erinnern, daß „Anbesorgt ein schlechtes Cnde nahm", und werden
nach einer Religion Umschau halten. Nnd der ganze Zweck dieses Buches
ist, ihnen zu zeigen, wohin sie schauen sollen. Denn in dem ganzen gott--
losen Wirrwarr dieser ungläubigen Iahrzehnte hat der Darwinismus nicht nur
direkt, sondern auch homöopathisch gewirkt, hat doch sein Gift unsere Lebens-
kräfte nicht nur angespornt, ihm zu widerstehen und es auszuscheiden, son-
dern eine neue Reformation zu vollziehen und eine glaubwürdige und ge-
sunde Religion an seine Stelle zu setzen. Samuel Butler war der Pionier
der Reaktion, soweit das Ausscheiden in Frage kam. Aber der Ausgang
des Kampfes wurde von Physiologen in Verwirrung gebracht, die sich in
dieser Frage in Mechanisten und Vitalisten teilten. Die Mechanisten sagten,
das Leben sei nichts als eine physikalische und chemische Tätigkeit, sie be-
haupteten, dies in vielen Fällen der sogenannten Lebensphänomene be-
wiesen zu haben, und sie werden unzweifelhaft bald mit verbesserten Metho-
den überhaupt in allen Fällen diesen Nachweis führen können. Die Vita-
listen sagten, ein toter Körper und ein lebendiger seien physikalisch und
chemisch identisch und der Unterschied könne nur durch das Vorhandensein
 
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