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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

DOI Heft:
Heft 12 (Septemberheft 1923)
DOI Artikel:
Bekker, Paul: Kunst, Schrifttum und Musik dieser Zeit: offener Brief an den Herausgeber des Kunstwarts
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0256

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auf subjektive Meinungsverschiedenheiten in der Bewertung dieser oder
jener Erscheinung zurückführen kann, da ich mich auch nicht etwa in
meinem Musikerstolz gekränkt fühle, weil Sie der Malerei und nicht der
Musik die Führerrolle zuweisen, so stört mich mein Widerspruch,
und ich möchte selbst wissen, worauf eigentlich er beruht. Ich finde zwer
Lrklärungen. Die erne ergibt sich daraus, daß ich die Ihren Ausführungen
zugrundeliegenden Beobachtungen, soweit sie die Musik betreffen, in dreser
verallgemeinernden Form für nicht zutreffend halte. Da es Ihnen
nicht darauf ankommt, Dogmen aufzustellen, sondern Erscheinungen un»
seres persönlichen und allgemeinen Lebens möglichst klar und richtig zu
erfassen, so erbitte ich die Erlaubnis, zunächst Ihre Ausführungen über
Geltung und Wirkungsumfang der heutigen Musik von mir aus ergänzen
zu dürfen. Ich bilde mir ein, durch solche Ergänzung auch das Material
für die zweite Erklärung meines Widerspruches zu gewinnen, über deren
Charakter ich jetzt noch schweigen will.

Also: wir wollen uns nicht etwa mit Ergründung des Wesens der
heutigen Musik, ihrer besonderen Eigentümlichkeiten abgeben, sondern
wollen nur feststellen, wie und in welchem Maße sie sich gegenwärtig
als um- und neubildende, geistig und seelisch gestaltende Macht nach
innen und außen bemerkbar macht. Sie, verehrter tzerr Schumann, spüren
wenig darin, obschon Sie den aufrichtigen Wunsch haben, etwas spüren
zu wollen. Aber Sie sagen, daß außer ein paar kritischen Orakelstimmen
nichts von dieser Musik zu bemerken sei, wenigstens nicht für das große
Publikum, eine tiefergreifende Wechselwirkung daher nicht erkennbar werde.
Ist das richtig, oder sollte sich das Rrteil hierüber nicht sehr nach den je-
weiligen lokalen Verhältnissen ändern müssen? Sie sprechen vermutlich
auf Grund von Beobachtungen in Dresden und Leipzig. Ich glaube aber,
nicht zu viel zu sagen, wenn ich behaupte, daß Leipzig seine Vorrangstellung
als Konzertstadt heut ebenso verloren hat, wie Dresden seine einstige Be-
deutung für die Oper. Die Rrsache dürfte weniger in den Persönlichkeiten
zu suchen sein — obschon die Wahl retardierender Kräfte ein bezeichnendes
Symptom ist — als in der sich heut vollziehenden geistigen Umlagerung, die
eigentlich sehr eng mit jener neuen Kunst zusammenhängt. Es ist wohl
so, daß diese „neue" Kunst, um sich zu zeigen, auch neuer Institu-
tionen bedarf und daß, je älter und fester eingewurzelt die alten In-
stitutionen sind, um so weniger Aufnahmemöglichkeit ihnen eigen ist.
Wenn Sie also etwa in der Dresdner Oper oder im Leipziger Gewandhaus
nichts von neuer Musik bemerken, so ist damit nichts gegen Vorhanden^-
sein und Wirksamkeit dieser Musik bewiesen. Es ist lediglich festgestellt,
daß die Publizität dieser Institute keine Kunstpublizität im Sinne des
heutigen Schaffens ist. Fragen Sie mich aber nun: „Wo in aller Welt
steckt denn Eure neue Musik, wenn nicht in Dresden und Leipzig?" so
müßte ich Sie zunächst auf die Kammermusikfeste aufmerksam machen,
die jetzt aller Orten stattfinden und von denen das merkwürdigste und an-
ziehendste das jährlich wiederkehrende in Donaueschingen ist. Ich
kann jedem, der sich über die praktischen Daseinsmöglichkeiten der neuen
Musik unterrichten will, den Besuch einer solchen Veranstaltung nicht
dringend genug empfehlen. Er wird sofort erkennen, warum die alther-
gebrachten Kunstverabfolgungs-Einrichtungen solchen Aufgaben gegenüber
versagen mußten, er wird gleichzeitig erkennen, daß sich hier etwas zergt,
das sehr wohl als neue, mittelpunktgebende, füllende und führende Kraft

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