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Kunstwart und Kulturwart — 37,2.1924

DOI Heft:
Heft 8 (Maiheft 1924)
DOI Artikel:
Klopfer, Paul: Von der Baukunst und ihren Temperamenten, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14440#0070

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das phlegmatische Kulturtemperament: transzendeut, gebunden
„ melancholische „ transzendent, frei.

Mit Ausnahme des phlegmatischen Temperamentes, das recht schlecht
wegkommt, findet Kant in seiner Charakteristik der Temperamente in den
„Beobachtungen über das Gesühl des Schönen und Erhabenen" die ge-
nannten Eigenschaften beim Einzelmenschen ähnlich', als wir ihnen als
Kulturtemperamenten in den Werken der Baukunst begegnen werden.

III.

Das melancholische Temperament
des gotischen Baues. Stereotome Bau-
technik als Formmittel.

^VZetrachten wir daraufhin das Straßburger Münster. Sein Inneres ließ
^uns andächtig erschauern. Schwennütige Lrhabenheit sprach zu uns,
dazwischen ergriff uns auch ein banges Gefühl vor dem Unheimlichen
und Phantastischen.

Mit einem Wort: es ist das melancholische Temperament,
das überall aus dem gotischen Bau h erausk l ing t. Lesen
wir daraufhin bei Kant die Bemerkungen über die melancholische Gemüts-
verfassung nach — wir werden Zeile für Zeile in Abereinstimmung finden
mit unserm Erleben an diesem Bau des Mittelalters.

Das was Kant in seiner Charakteristi? nicht hervorhebt, was hier am
Bau aber an erster Stelle spricht, ist die eigensinnige Kraft, mit der
dieses Temperament dem Stoff zu Leibe geht, eine Kraft, herausgeboren
aus einer Zeit voll Wildheit und Mystik, voll Widersprüchen, voll Schwer-
mut und Leichtsinn — ich erinnere an die Geißelbrüder, an Totentanze,
Fronleichnamsprozessionen und Fastnachtsspiele. Aberschäumend und zäh
zugleich war diese Krrft, sie setzte sich durch. Die Pest wütete um die
Mitte des 14. Iahrhunderts und fraß ein Drittel der europäischen Mensch-
heit — die Kraft setzte sich durch. Eine seltsame Kraft, weun wir ihre
Äußerungen betrachten am Münster in Straßburg. Eine aushöhlende,
dem Stein feindlich zu Leibe gehende Kraft! Gewiß, Stein wurde auf
Stein gesetzt, dann aber kam der Steinmetz und schnitt aus der rohen
Masse der Pfeiler ungeheuer hohe SLulen, sogenannte „Dienste" heraus,
aus denen Gurte und Ribben wuchsen, er hinterhöhlte diese Dienste, in
der Spätgotik sällt der Dienst ganz weg und der Pfeiler zeigt nur mehr
flache Vertiefungen. tzunderte von Beispielen für diesen Kampf gegen die
Materie würden wir an den gotischen Domen finden, wollten wir genau
beobachten. Am Westeingang des Straßburger Münsters finden wir eine
ganz rätselhafte Art dieser „Entmaterialisierung" in der „Harfenbespan--
nung" der Flächen über den Portalen. Beobachten wir dann die Portale
selbst, so fällt uns die große Tiefe auf, die wie ein Loch, trichterförmig
in die dicke Mauer hineingeschnitten wirkt. Das ist kein Bauen im Sinne
eines An-- und Aufeinanderfügens — das ist ein Aushöhlen, als ob
ein Berg von Steinen da wäre und sich die Kraft dahinein arbeiten müsse,
und drinnen aus der Masse die Pfeiler und Wände, und in den WLnden
die Fenster ausschneiden müsse.

Diese „stereotome" oder „massenschnittige" Baukunst, wie ich sie nenne,
ist von der Kraft, die sie pflegte, d. h. von dem melancholischen Kultur-
temperament, nicht zu trennen.
 
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