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Kunstwart und Kulturwart — 37,2.1924

DOI issue:
Heft 8 (Maiheft 1924)
DOI article:
Klopfer, Paul: Von der Baukunst und ihren Temperamenten, [1]
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14440#0071

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Immer mächtiger wirkt sis sich aus. Sie hatte begounen im Augenblick,
da das Kunsthandwerk aus den Händen der Kirche in die des Laien über-
ging (in Frankreich um 1160). Mit dem zunehmeuden Selbstbewußtsein
des Volkes, mit der Steigerung der melancholischen Kraft seines Tem--
peraments wuchs auch die Kraft der Bauhütten — und lange noch vor
Luther, in fränkischen, schwäbischen und obersächsischen Hallenkirchen, er-
reichte sie ihre gewaltigste Tat, die Einheitlichkeit des Raumes, in dem
unser Blick überraschend wenig Widerstand in Mauern und Pfeilern
findet, und wie schwebend den Raum ohns Richtung und Ziel, nur als
Raum, in Licht und Farben genießt. Oder es ist, als ob wir im deutschen
Walde dahinwandelten, durch hohe Stämme, deren Geäst und Gezweig
ganz oben erst sich leicht im Netze verflicht, daß wir hindurch zum Himmel
blicken können.

Da hatte die strebende, sehnende Kraft der nordischen Melancholie ihre
Aufgabe gelöst: sie hatte die Kirchendecke, die in romanisch-schwerem Stil
wagerecht oder schwer gewölbt überm Raume lastete, überwunden!

IV.

Das cholerische Temperament des
romanischen Baustils. Das Prächtige,
Prahlende wird beeinflußt vom phleg-
matischen Orient, Aber die stereotome
Bautechnik gilt auch hier.

Ao war der Schritt getan aus der Gebundenheit des romanischen in
^"vie Freiheit des gotischen Stils.

Das melancholische Temperament, das Temperament des abendländischen
Volkes — ein echt demokratisches Temperament —, hatte gesiegt über ein
anderes Temperament, über das Temperament der ecclesia militans, die
bis in die Mitte des 12. Iahrhunderts die christlichen Völker beherrschte.

Wie nennen wir dieses Herrschertemperament? Das chole-
rische. Kant spricht darüber so: »Der, welchen man unter der cholerischen
Gemütsbeschasfenheit meint, hat ein herrschendes Gefühl für diejenige
Art des Erhabenen, welche man das Prächtige nennen kann. Der
Cholerische betrachtet seinen eigenen Wert und den Wert seiner Sachen
und Handlungen aus dem Anstande oder dem Scheine, womit er in die
Augen fällt. Wenn sein Geschmack ausartet, so wird sein Schimmer
schreiend, d. i. auf widrige Art prahlend/

Aber diese Charakteristik erschöpft das Wesen der romanischen Bau-
kunst noch nicht. Gewiß : wer einmal die Chorbauten in der Michaelskirche
in Hildesheim gesehen hat, wird den Eindruck des Prächtigen und zugleich
des Festungsmäßigen nicht vergessen, den die getürmten Wände und
Schranken in ihm hervorrufen. Auch die Ornamentik in ihrer Bewegtheit
und Buntheit, die herrlichen Schmiede- und Gußarbeiten sprechen von
dem tzerrschertemperament der Kirche. Dies aber ist es nicht allein, was
die romanische Baukunst bemerkenswert macht. Mehr noch spricht zu uns
das Gemäuer, sprechen die Pfeiler und dicken Säulen mit den hohen
Wänden darüber, und daraus als Folge der Zwang, mit dem unsev
Blick und Schritt im Kirchenraum geführt wird. Es ist das ein Zwang,
der keine Selbständigkeit mehr zuläßt.

Bleiben wir bei dem vorhin gefundenen Bild von der Höhlung, so
müssen wir feststellen, daß in der romanischen Baukunst die „Höhle"

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