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Kunstwart und Kulturwart — 37,2.1924

DOI Heft:
Heft 10 (Juliheft 1924)
DOI Artikel:
Trentini, Albert von: Berg
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https://doi.org/10.11588/diglit.14440#0151

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Ancrnas und Chartreuse! Arme vor den Gittern! Alle aber entweder nach
genossenen Operetten, Kinos, Varietes, Bars und Flirts, oder mit dem Durst
nach diesen Genüssen. Also wie immer! Die sogenannten Staaten rundum
aber ebenso sinnverlassen! Die Kirchen ebenso! Die Wissenschaften und
die Künste."

Wütend beugte sie sich vor: „Fünfuudneunzig Prozent dieser Welt sind
immer uoch hottentottisch, sage ich dir!"

Ich lächelte ihr ungerührt zu. Eine Frau sieht nicht ein, daß es der Sinn
der Ideale ist, gesehnt und gewollt zu werden. Trotzdem hatte Ivossa recht.
Der Sehend-Gewordene kann wohl überall mit Selbstbewahrung, ja mit
Gewinn leben; aber das höchste Maß seiner Person auswirkeu kann er nicht
überall! „Und wir müssen mittun!" blitzten Ivossas Augen empört.
„Mit diesen sünfundneunzig Prozent immer noch Puppen spielen! Weil
sie es wollen! Wir! Die wir."

„W a s könnten?" fragte ich im Nu; laut.

Einen prasselnden Blick warf Ivossa um sich. Kein Zweifel:
nun verbrannte sie in ihrem rauchenden Gewissen diese ganze
hottentottische Welt!

Wieder schwiegen wir die längste Weile.

Plötzlich sagte ich: „Fliehen wir!"

Ivossa zuckte kaum mit den Achseln.

„Fliehen wir!" wiederholte ich.

„Wohin?«

Aber ich war schon aufgesprungen. „Sofort! Gleich! Ich will es! Komm!"

Tatsächlich fuhren wir eine Stunde später aus dem Bahnhof. Aber es
ward eine wenig schöne Reise. Viermal mußten wir umsteigen. Gegen Mor-
gengrauen bedeckte sich der tzimmel. Wir hatten kein Auge zugetan. Das
Dorf, durch welches wir, angekommen, gehen mußten, sah entsetzlich aus.
Und als der Anstieg begann, waren wir schon todmüde. Erst kilometerlang
durch nasse Wiesen. Dann über dürre Hänge. Dann durch unordentlichen
Wald. Endlich steil durch allerdicksten. Ivossa schwieg wie ein Stein. Auch
ich war schon unsicher. Als uach ewigem Steigen im hohen Munde der
Schlucht, durch die wir ungeschickt aufwärts kletterten, der Gipfel auftauchte,
riefen wir mit einer heiseren Stimme: „So weit noch?!" Der tzimmel
hatte sich entwölkt. Aber dafür brannte nun die Sonne herab; und der
Gipfel rückte immer weiter von uns weg, je näher wir an ihn uns
heranquälten. Plötzlich verschwand er hinter einer steilen Almkuppe. Senk-
recht diese Kuppe empor kroch unser Steig. Schachmatt kamen wir oben an.
Eine Hütte stand in der Grasmulde. Wir wollten nach Wasser fragen. Aber
das teuflische Gesicht eines alten Weibes, das mit einem ungeheuer bel-
lenden Hunds in der Tür erschien, ließ es nicht einmal zu dieser Frage
kommen.

Von den letzten zwei Stunden Wegs weiß ich nur noch so viel, daß es an
einem Faden hing, daß Ivossa und ich uns nicht stritten. Als endlich kein
Zweifel mehr daran bestand, daß wir auf dem Gipfel waren, obwohl das,
worauf wir standen, ein weites Plateau bildete, ließ ich meinen Rucksack
fallen, half Ivossa, sich niederzulassen, und fiel gleich darauf wie ein Sack
ins Gras.

Gegen drei Nhr nachmittags mochte es gewesen sein, daß wir erwachten.
Wir fuhren auf, sahen verblüfft uns an, das Gras, den Himmel, die un-
zähligen Berge . . .

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