RAYMOND RADIGUET
Von
PARCEL RAVAL
Teich hohes Maß der Weisheit, seine Kurve, wenn man zwanzig
VVjahre zu leben hat, so zu ziehen, daß sie am letzten Lebenstage in
sich selbst zurückläuft und einen reinen und geschlossenen Kreis ergibt!
Der Tod, der alles vereitelt und zerstört, wenn er Jugend überrascht, hat
diesmal einen Geist, der schneller war als das Leben, nicht verhindern
können, sich selbst zu vollenden. Er hat seine Phasen mit der Geschwin-
digkeit eines Kometen durcheilt. Ausgangs-und Endpunkt treffen sich.
Alles ist geordnet und Radiguet hinterläßt ein Werk, ebenso leicht, wie
es stark und gedrängt ist — vollendet, wie jedes Werk von Geltung.
Was uns Radiguet richtig sehen und einordnen läßt, ist der Zwiespalt
zwischen ihm und seiner Epoche, den er nie verleugnet hat. Außergewöhn-
lich empfindlich für alles Extreme läßt er trotzdem niemals einen nur
spielerischen Einfluß auf sich zu. Abgestoßen durch die allzu billigen
Kühnheiten, die die Literatur in das Chaos trieben, greift er zurück und
knüpft spontan wieder an bei einer verlassenen Tradition.
Ich erinnere mich eines Abends, an dem Radiguet sich in vertraulichen
Mitteilungen erging. Er gestand mir, daß er unempfänglich sei für Musik,
daß eine kubistische Leinwand für ihn ein Buch mit sieben Siegeln sei und
daß es in der ganzen modernen Literatur drei oder vier Werke gäbe, die
ihm etwas sagten. Von diesem Tage an lernte ich ihn besser verstehen. Die
Vornehmheit seines Geistes fand sich schlecht in die buntscheckige
Fratzenhaftigkeit von heute. In einer Epoche, in der es zum guten Ton
gehört, vulgär zu sein, hatte es etwas Beunruhigendes, ihn so ganz ohne
»mauvais goüt« zu sehen. Er liebte Stendhal und Gobineau, Mme de La-
fayette und Constant, de Rebecque, Malherbe und La Fontaine. Ihre
Reinheit zog ihn an, weil sie der seinen glich. In ihnen erkennt er jenen
Geist der Vernunft wieder, von dem seine Epoche sich mit Abscheu ab-
gewandt hat. Die Stunde gehörte der Tempelschändung, der Verneinung,
dem Wortkult. Man sabotierte die Natur; der Eiffelturm inspirierte neue
Pythien. Radiguet, den diese romantischen Spielereien außer sich brachten,
kehrte ihnen den Rücken und entführte seine Muse an ein einsames Ge-
stade. Hier in der Stille reihte sie ihm Muschel an Muschel zu einem
Kranz der Weisheit — sein erstes Gedicht —, wo man nur das Ohr ein
wenig zu neigen braucht, um den Einklang der Stimmen — wie zart-
zurückhaltend sind sie! — von Liebe und Tod zu vernehmen.
Dann entstand »Le Diable au Corps«. Ich sehe noch das Hotelzimmer,
in dem er mir sein Buch vorlas, obgleich es schon mehr als zwei Jahre
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Von
PARCEL RAVAL
Teich hohes Maß der Weisheit, seine Kurve, wenn man zwanzig
VVjahre zu leben hat, so zu ziehen, daß sie am letzten Lebenstage in
sich selbst zurückläuft und einen reinen und geschlossenen Kreis ergibt!
Der Tod, der alles vereitelt und zerstört, wenn er Jugend überrascht, hat
diesmal einen Geist, der schneller war als das Leben, nicht verhindern
können, sich selbst zu vollenden. Er hat seine Phasen mit der Geschwin-
digkeit eines Kometen durcheilt. Ausgangs-und Endpunkt treffen sich.
Alles ist geordnet und Radiguet hinterläßt ein Werk, ebenso leicht, wie
es stark und gedrängt ist — vollendet, wie jedes Werk von Geltung.
Was uns Radiguet richtig sehen und einordnen läßt, ist der Zwiespalt
zwischen ihm und seiner Epoche, den er nie verleugnet hat. Außergewöhn-
lich empfindlich für alles Extreme läßt er trotzdem niemals einen nur
spielerischen Einfluß auf sich zu. Abgestoßen durch die allzu billigen
Kühnheiten, die die Literatur in das Chaos trieben, greift er zurück und
knüpft spontan wieder an bei einer verlassenen Tradition.
Ich erinnere mich eines Abends, an dem Radiguet sich in vertraulichen
Mitteilungen erging. Er gestand mir, daß er unempfänglich sei für Musik,
daß eine kubistische Leinwand für ihn ein Buch mit sieben Siegeln sei und
daß es in der ganzen modernen Literatur drei oder vier Werke gäbe, die
ihm etwas sagten. Von diesem Tage an lernte ich ihn besser verstehen. Die
Vornehmheit seines Geistes fand sich schlecht in die buntscheckige
Fratzenhaftigkeit von heute. In einer Epoche, in der es zum guten Ton
gehört, vulgär zu sein, hatte es etwas Beunruhigendes, ihn so ganz ohne
»mauvais goüt« zu sehen. Er liebte Stendhal und Gobineau, Mme de La-
fayette und Constant, de Rebecque, Malherbe und La Fontaine. Ihre
Reinheit zog ihn an, weil sie der seinen glich. In ihnen erkennt er jenen
Geist der Vernunft wieder, von dem seine Epoche sich mit Abscheu ab-
gewandt hat. Die Stunde gehörte der Tempelschändung, der Verneinung,
dem Wortkult. Man sabotierte die Natur; der Eiffelturm inspirierte neue
Pythien. Radiguet, den diese romantischen Spielereien außer sich brachten,
kehrte ihnen den Rücken und entführte seine Muse an ein einsames Ge-
stade. Hier in der Stille reihte sie ihm Muschel an Muschel zu einem
Kranz der Weisheit — sein erstes Gedicht —, wo man nur das Ohr ein
wenig zu neigen braucht, um den Einklang der Stimmen — wie zart-
zurückhaltend sind sie! — von Liebe und Tod zu vernehmen.
Dann entstand »Le Diable au Corps«. Ich sehe noch das Hotelzimmer,
in dem er mir sein Buch vorlas, obgleich es schon mehr als zwei Jahre
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