DIE ENTWICKLUNG DER JAZZ-BAND UND
DIE MUSIK DER NEGER NORD-AMERIKAS
Von
DARIUS MILHAUD
1918 wurde uns die Jazz-Band durch Gaby Deslys und Pilcer vom Casino de
Paris aus New York herübergebracht. Fast wie ein Erschrecken, ein plötzliches
Erwachen kam dieser erschütternde Rhythmensturm über uns, diese vorher niemals
gruppierten und nun mit einem Schlag uns vermittelten Klangelemente. Plötzlich er-
kannten wir ihre Bedeutung: die Anwendung der Synkope in Rhythmen und Melodien,
die auf dem Hintergrund einer stumpfen Regelmäßigkeit ebenso wesentlich ist wie
die Blutzirkulation, wie Herz- oder Pulsschlag; d Einführung des Schlagzeugs,
d. h. alle Schlaginstrumente einer vereinfachten
Orchestrierung gruppiert und zu einem einzigen
kombinierten und so vollkommenen Instrumente ver-
einigt, daß, wenn Buddy, der »Drummer« des Synco-
pated Orchestra ein Schlagzeug-Solo ausführt, wir
eine rhythmisch abgewogene Komposition von der
unerhörtesten Ausdrucksvarietät zu hören glauben,
was durch die Verschiedenartigkeit der Klangfarben
der einzelnen Schlaginstrumente, die er gleichzeitig
spielt, zu erklären ist; die neue Instrumentaltechnik:
Behandlung des Piano mit der Trockenheit und der
Präzision, wie Trommel und Banjo behandelt wird,
die Auferstehung des Saxophons; die Posaune,
deren Glissandos einer der beliebtesten Effekte
werden, und der man ebenso wie der Trompete
mit Vorliebe gerade die weichesten Melodien an-
vertraut; die häufige Anwendung des Dämpfers für
diese beiden Instrumente, des Portamento, des
Vibrato der Züge und Klappen, der Flatterzunge;
die Clarinette ist von so schriller Heftigkeit des Ein-
satzes, von einer Tonstärke, hat Läufe und Ton-
schwankungen zu geben, daß sie unsere besten
Spieler aus der Fassung bringt. Dazu kommt die Rouveyre Zeidin. (aus „Le Gynecee)
Einführung des Banjo, das härter, aufreizender und
sonorer klingt als die Harfe oder die Pizzicati eines Quartetts und dann die ganz
besondere Technik der schneidend-feinen Geige, die die breitesten Vibratos und ganz
langsames Glissando in Anwendung bringt.
Die Stärke der Jazz-Band liegt in der Neuartigkeit ihrer Technik auf allen Ge-
bieten. Was die Rhythmik anbetrifft, so hat die aus der ständigen Anwendung der
Synkope gewonnene Kenntnis der Möglichkeiten dahin geführt, daß diese Musik
mit den einfachsten Mitteln und ohne die Anwendung einer reichen und variierten
Instrumentation ausgeführt werden kann. 1920—21 brauchte man nur in der Gaya
Bar, Rue Duphöt, Jean Wiener am Klavier und Vance Lowry auf dem Saxophon
oder dem Banjo zu hören, um einen Begriff vollkommenster Jazz-Musik zu erhalten,
die rein und unverfälscht bei einem Minimum angewandter Mittel gespielt wurde.
Was die Orchestrierung anbetrifft, so hat die Anwendung der oben aufgeführten
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DIE MUSIK DER NEGER NORD-AMERIKAS
Von
DARIUS MILHAUD
1918 wurde uns die Jazz-Band durch Gaby Deslys und Pilcer vom Casino de
Paris aus New York herübergebracht. Fast wie ein Erschrecken, ein plötzliches
Erwachen kam dieser erschütternde Rhythmensturm über uns, diese vorher niemals
gruppierten und nun mit einem Schlag uns vermittelten Klangelemente. Plötzlich er-
kannten wir ihre Bedeutung: die Anwendung der Synkope in Rhythmen und Melodien,
die auf dem Hintergrund einer stumpfen Regelmäßigkeit ebenso wesentlich ist wie
die Blutzirkulation, wie Herz- oder Pulsschlag; d Einführung des Schlagzeugs,
d. h. alle Schlaginstrumente einer vereinfachten
Orchestrierung gruppiert und zu einem einzigen
kombinierten und so vollkommenen Instrumente ver-
einigt, daß, wenn Buddy, der »Drummer« des Synco-
pated Orchestra ein Schlagzeug-Solo ausführt, wir
eine rhythmisch abgewogene Komposition von der
unerhörtesten Ausdrucksvarietät zu hören glauben,
was durch die Verschiedenartigkeit der Klangfarben
der einzelnen Schlaginstrumente, die er gleichzeitig
spielt, zu erklären ist; die neue Instrumentaltechnik:
Behandlung des Piano mit der Trockenheit und der
Präzision, wie Trommel und Banjo behandelt wird,
die Auferstehung des Saxophons; die Posaune,
deren Glissandos einer der beliebtesten Effekte
werden, und der man ebenso wie der Trompete
mit Vorliebe gerade die weichesten Melodien an-
vertraut; die häufige Anwendung des Dämpfers für
diese beiden Instrumente, des Portamento, des
Vibrato der Züge und Klappen, der Flatterzunge;
die Clarinette ist von so schriller Heftigkeit des Ein-
satzes, von einer Tonstärke, hat Läufe und Ton-
schwankungen zu geben, daß sie unsere besten
Spieler aus der Fassung bringt. Dazu kommt die Rouveyre Zeidin. (aus „Le Gynecee)
Einführung des Banjo, das härter, aufreizender und
sonorer klingt als die Harfe oder die Pizzicati eines Quartetts und dann die ganz
besondere Technik der schneidend-feinen Geige, die die breitesten Vibratos und ganz
langsames Glissando in Anwendung bringt.
Die Stärke der Jazz-Band liegt in der Neuartigkeit ihrer Technik auf allen Ge-
bieten. Was die Rhythmik anbetrifft, so hat die aus der ständigen Anwendung der
Synkope gewonnene Kenntnis der Möglichkeiten dahin geführt, daß diese Musik
mit den einfachsten Mitteln und ohne die Anwendung einer reichen und variierten
Instrumentation ausgeführt werden kann. 1920—21 brauchte man nur in der Gaya
Bar, Rue Duphöt, Jean Wiener am Klavier und Vance Lowry auf dem Saxophon
oder dem Banjo zu hören, um einen Begriff vollkommenster Jazz-Musik zu erhalten,
die rein und unverfälscht bei einem Minimum angewandter Mittel gespielt wurde.
Was die Orchestrierung anbetrifft, so hat die Anwendung der oben aufgeführten
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