ALEXANDERZÜGE
MITTELS WALLUNGEN
von
GOTTFRIED BENN
■s ist Winter, starker Frost, morgens geradezu ein wenig dunstig
vor Kälte. Ein zartes blasses Licht begleitet die Sonne in dritter
Distanz, — spricht sich der Geographieleitfaden aus —, das sich auf große
Entfernung hin in die Bahnen der nächsten Planeten erstreckt: es ist das
Tierkreis- oder Zodiakallicht, wie ein Schimmer der Milchstraße erscheint
es in pyramidaler Gestalt — von diesem zarten und blassen Dunst erscheint
des Morgens etwas in der Weite, besonders in den Vormittagsstunden,
wenn die Sonne brandrot und langsam über die Gneisenaustraße sich
erhebt.
Es ist die Zeit der Tag- und Nachtgleiche, etwas mit den Wendekreisen
geht vor. Man mag zu dem Entwicklungsproblem stehen, wie man will,
ein gregorianisches Jahr steht jedenfalls vor seinem Ende, man altert, die
Schläfen werden grau. Nichts Abnormes, kein spezifisches Phänomen, ana-
tomisch tritt Luft in die Haarschäfte, in manchen Familien schon in den
zwanziger Jahren, im vorliegenden Falle im 37. Jahre.
Es ' ist Weihnachtsabend; der Fall, um den es sich handelt, ist allein,
aber nicht ganz unbeschenkt. Ganz unerwartet überbrachte ihm ein Bote
ein kleines Paket, es schlug darin wie Wasser, es ergab sich ein kleiner
dreieckiger Karton, ein phantastisches Glas, ein Name aus einem Märchen,
will sagen ein Parfüm wie aus dem Pendschab, asiatisches Raffinement,
Ortsbezeichnungen wie Champs Elysees enthielten Näheres, und Mouchoir
de Monsieur beeinflußte vollends aufs stärkste das gesamte Milieu: durfte
es nicht einen Augenblick die Vorstellung erwecken, durfte sich nicht der
Empfänger einen Moment in die Illusion verlieren, als sei er der gedank-
lich bedachte Monsieur, ein Herr, eine Art Mitglied aus der Sphäre der
Gemeinschaft, das Batisttuch im Jacket, das er diskret, fein abgestimmt
und mit vollkommener Ruhe zu verwenden sich erzogen hatte, nicht über-
trieben: ein sonores Etwas, dessen Nahen und besonnenem Auftreten man
entgegensah, ein nicht unbeträchtlicher Mittelpunkt, um den sich dies und
das gruppierte, um es zu vollenden, eine gesellschaftliche Erscheinung, der
der gesamte modern-zivilisatorische Komplex ohne viel Aufhebens ent-
strömte, ein Niederschlag der Zeit und Reflex ihrer mannigfachen Phos-
phoreszenz —: wie eine Blähung lag es über ihm, gerötete Gesichts- und
Halsorgane, und er tastete sich weiter durch dies und das.
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MITTELS WALLUNGEN
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GOTTFRIED BENN
■s ist Winter, starker Frost, morgens geradezu ein wenig dunstig
vor Kälte. Ein zartes blasses Licht begleitet die Sonne in dritter
Distanz, — spricht sich der Geographieleitfaden aus —, das sich auf große
Entfernung hin in die Bahnen der nächsten Planeten erstreckt: es ist das
Tierkreis- oder Zodiakallicht, wie ein Schimmer der Milchstraße erscheint
es in pyramidaler Gestalt — von diesem zarten und blassen Dunst erscheint
des Morgens etwas in der Weite, besonders in den Vormittagsstunden,
wenn die Sonne brandrot und langsam über die Gneisenaustraße sich
erhebt.
Es ist die Zeit der Tag- und Nachtgleiche, etwas mit den Wendekreisen
geht vor. Man mag zu dem Entwicklungsproblem stehen, wie man will,
ein gregorianisches Jahr steht jedenfalls vor seinem Ende, man altert, die
Schläfen werden grau. Nichts Abnormes, kein spezifisches Phänomen, ana-
tomisch tritt Luft in die Haarschäfte, in manchen Familien schon in den
zwanziger Jahren, im vorliegenden Falle im 37. Jahre.
Es ' ist Weihnachtsabend; der Fall, um den es sich handelt, ist allein,
aber nicht ganz unbeschenkt. Ganz unerwartet überbrachte ihm ein Bote
ein kleines Paket, es schlug darin wie Wasser, es ergab sich ein kleiner
dreieckiger Karton, ein phantastisches Glas, ein Name aus einem Märchen,
will sagen ein Parfüm wie aus dem Pendschab, asiatisches Raffinement,
Ortsbezeichnungen wie Champs Elysees enthielten Näheres, und Mouchoir
de Monsieur beeinflußte vollends aufs stärkste das gesamte Milieu: durfte
es nicht einen Augenblick die Vorstellung erwecken, durfte sich nicht der
Empfänger einen Moment in die Illusion verlieren, als sei er der gedank-
lich bedachte Monsieur, ein Herr, eine Art Mitglied aus der Sphäre der
Gemeinschaft, das Batisttuch im Jacket, das er diskret, fein abgestimmt
und mit vollkommener Ruhe zu verwenden sich erzogen hatte, nicht über-
trieben: ein sonores Etwas, dessen Nahen und besonnenem Auftreten man
entgegensah, ein nicht unbeträchtlicher Mittelpunkt, um den sich dies und
das gruppierte, um es zu vollenden, eine gesellschaftliche Erscheinung, der
der gesamte modern-zivilisatorische Komplex ohne viel Aufhebens ent-
strömte, ein Niederschlag der Zeit und Reflex ihrer mannigfachen Phos-
phoreszenz —: wie eine Blähung lag es über ihm, gerötete Gesichts- und
Halsorgane, und er tastete sich weiter durch dies und das.
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