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Der Querschnitt — 4.1924

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Urban, Henry F.: Siegfried Wagner im Dollarlande
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https://doi.org/10.11588/diglit.62257#0187

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SIEGFRIED WAGNER IM DOLLARLANDE
Von
HENRY F. URBAN

J'm musikalischen Leben Amerikas ist die Anwesenheit Siegfried Wagners sicher-
lich das bedeutendste Ereignis. Sein erstes Auftreten erfolgte im Dollarköniglichen
Opernhause in einem Nachmittags-Konzert. In dem dichtgefüllten Riesenhaus
herrschte eine Spannung, die man förmlich fühlen konnte und wie ich sie in diesen
Räumen nie zuvor so unmittelbar, so persön-
lich empfunden hatte. Die Stille war fast un-
heimlich. Aber sie war begreiflich. Denn hier
sollte nun der Sohn des Größten unter den
neuzeitlichen Komponisten erscheinen, des
Mannes, der nach wie vor die Kaiserkrone
im Reiche der Musik, zumal der Opernmusik,
trägt, der Erbe von Bayreuth, selber Musiker
von Bedeutung, wiewohl er keinen Anspruch
darauf erhebt, mit dem Maßstabe des Raters
gemessen zu werden. Wie sah er aus? War
er äußerlich dem Vater ähnlich? Endlich löste
sich die Spannung. Auf dem Podium erschien
ein Mann von mittlerer Figur, etwas behäbig,
mit einem Kopf, der unverkennbar die so
charakteristischen Merkmale Richard Wag-
ners trug, zumal dessen Nase, Mund und
Kinn, die Stirn mehr vom Großvater Liszt,
das graue Haar kurzgeschnitten. Ein Be-
grüßungsapplaus brach los von einer beispiel-
losen Stärke. Er dauerte an, als Siegfried sich
bereits auf dem Dirigentenstand befand und
wollte schier nicht aufhören. Immer wieder
mußte er sich umwenden und verbeugen. Im
Sohne ehrte man den Kater. Endlich durfte
er den Taktstock heben und beginnen. Er
dirigierte anders als die andern: mit einer
auffallenden Ruhe, die dennoch dem Orchester
(es war das ausgezeichnete Orchester des
Opernhauses) die Absichten des Dirigenten
vermittelte und manchem Zuhörer gewiß ver-
wunderlich erschien. Der durchschnittliche Amerikaner verlangt vom Dirigenten,
daß er »arbeitet«, mit Händen und Füßen, mit dem Kopf, mit den Haaren darauf,
falls sie lang genug sind, mit Oberleib und Unterleib. Sonst glaubt er, er sei nichts.
Ich war mal dabei, wie ein deutscher Dirigent dermaßen »arbeitete«, daß ihm eine
Manschette (das berühmte Röllchen) abflog und über das ganze Orchester sauste.
Da sagte mein Nachbar bewundernd zu mir: »He certainly works damned hard.«
(Der arbeitet sicherlich verflucht schwer.) Dieser Dirigent Wagner »arbeitet« gar
nicht. Aber — er war Wagner II. Der kann sich das leisten. Und man fand sein
Dirigieren»vornehm«. So dirigierte er die Ouvertüre zu »Rienzi«, »Wotans Ab-
schied« aus »Walküre«, mit dem glänzenden Baritonisten und Wagnersänger der


Joachim Ringelnatz (Zeidin.)

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