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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 4.1924

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Je cherche après Titine
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Sternhelm, Carl: Querschnitt durch meinen Theaterwinter
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QUERSCHNITT
DURCH MEINEN THEATERWINTER
Von
CARL STERNHEIM



Ilma Graf-Dreyfus Carl Sternheim
liest.in Frankfurt
„Gauguin und van Gogh" vor

ie Tatsache der zweihundertmal in der Berliner Tribüne bis zum Herbst 1923
gespielten »Hose«, ein Los, das keinem neuzeitlichen literarischen Stück
widerfahren war, hatte mein Interesse der Bühne wieder zugeführt, der ich, Schikanen
der Zensurbehörde, Teilnahmslosigkeit der Direktoren und der Kritik wegen, den
Rücken gekehrt hatte.
Eines Oktoberabends rief mich Hasenclever in Dresden an, bat, ich möchte das
neugegründete Schauspieltheater, das vor dem Zusammenbruch stand, dadurch retten,
daß ich als Sensation selbst die »Hose« inszenierte.
Da Proben am nächsten Morgen beginnen sollten, gab es kein Besinnen, und ich
betrat anderntags in neuer Eigenschaft die
Bühne eines Saaltheaters, auf der einige junge
Leute mich neugierig erwarteten.
Der präkoxen, nicht zu schildernden Veralbe-
rung gegenüber, in der ich das gesamte deutsche
Theater wußte, hatte ich das Bewußtsein, wie ge-
ringe Kräfte in den mir unbekannten Spielern
schlummerten; meine vollkommene Kenntnis des
mit dem Stück Gewollten mußte ich ihnen ein-
flößen, sollten sie das störrische Publikum be-
zwingen. Strikt verstandener Text, herausgetrie-
benes Wesentliches mußte mit Ton und beglei-
tender Gebärde dem Zuschauer als selbstverständ-
lich Außerordentliches wuchtig versetzt werden.
Kein Loch, keine Pause durfte klaffen, kein
Zweifel sein:
Fanfare mußte schmettern.
Die Herrschaften, ohne Schulung durch einen
bedeutenden Regisseur, aus Gagenlosigkeit unter-
ernährt, saft- und kraftslos, waren willig. Denn

sie vertrauten, da sie spürten, kein Dilettant vergriff sich, doch der Mann des Metiers
stand da, ein Motor knatterte. So schraubten sie sich an den Kontakt, stürmten an-
gekurbelt über Hindernisse. Begeisterten, füllten sich, nahmen tüchtige Schlucke aus
der Pulle schauspielerischen Begreifens, legten geschmeidige Körper, gespitzte Worte,
straffe Gesten hin, daß es von Probe zu Probe lustiger wurde.
Da ich wußte, keine ästhetische Lust mehr, doch politisches Ressentiment entlädt
in Deutschland heute das Publikum und die Presse im Theater, sah ich in einer
amusischen Stadt wie Dresden, deren Bühnen ein vermodertes Programm von
»Hasemanns Töchtern« bis zur »Versunkenen Glocke« spielen, und in der ein vor-
sintflutliches, schlechtgewaschenes Bürgertum die Vorhand auf alles hat, trotz des
Stückes Ruf einen munteren Theaterskandal voraus, den ich, da die beginnende
Volkstümlichkeit meiner Komödien mich ängstlich macht, ersehnte.
Aber Beifallskatarakte meiner jungen und jüngsten Anhänger siegten zum Schluß
über alternder Zischer, und die Rezensenten der an Stinnes verkauften Zeitungen

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