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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 4.1924

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Heft 1
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Je cherche après Titine
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Heft 2
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Sternhelm, Carl: Querschnitt durch meinen Theaterwinter
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https://doi.org/10.11588/diglit.62257#0148

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stellten süßsauer fest, das Stück sei noch immer ein Schmarren, in der Regie sei der
für Dresden neue Ton, der auch hochgespannte Erwartungen übertroffen habe, ge-
wesen. Womit das junge Theater, von der Bourgeoisie als Hoffnung begrüßt, über
den Winter gerettet war.
Robert hatte von meinem Erfolg gehört, lud mich, »Die Kassette« im Dezember
in Berlin zu inszenieren, ein.
Da gab's ein Bedenken: Bassermann, der die Rolle 1911 im Deutschen Theater
kreiert hatte, nur zu gleichen, würde keinem Schauspieler ge-
lingen. Dagegen sollte Felix Hollaenders damalige Einstudierung
zu übertreffen, nicht schwer sein. Als ich aber die ersten Proben
hinter mir hatte, wußte ich: in Adele Sandrocks »Tante Elsbeth«
stand eine Bassermann ebenbürtige Bombe auf den Brettern. Hier
aber mußte meine Arbeit eine andere sein. Neben zwei jüngeren
Künstlern waren mir in der Sandrock und in E. von Winterstein
Künstler gegenüber, die aus anderen Zeiten, durch andere Regis-
seure ihren strengen, nicht verrückbaren Stil hatten. Hier war
auf naturalistischer, psychologischer Grundlage, die möglichst
vermittelnd mosaikartig eins zum anderen setzte, das von mir
gewollte krasse Herausschlagen des wesentlich Dramatischen
kaum erreichbar. Ich mußte auf großen schauspielerischen Besitz
der beiden Prominenten Rücksicht nehmen, um so mehr, als die
klotzige Sandrock gleich auf der ersten Probe mit Stentorstimme
posaunte, expressionistische Granaten wie das Wort »Urin« in
ihrer Rolle nehme sie als Dame von Welt, ehemalige Hofburg-
schauspielerin, um keinen Preis in den guterzogenen Mund.
Doch war es im Verlauf der Arbeit erstaunlich und von künst-
lerischem Wert, zu sehen, wie viel auch diese beiden großen
Schauspieler von mir annahmen, und ich wurde erfreut, als alle
fünf Beteiligten erklärten, wie auch der Arbeit Erfolg sein würde,
die Proben hätten ihrer Lebensarbeit genützt, unser Mitein-
anderschaffen sei ihnen angenehm gewesen. Adele murrte zwar
urch sie verpönte Wort »Urin« in Wintersteins Mund legte, dann

aber holte sie wuchtiger zu der die Zuschauer später ergötzenden Szene, den Schluß-
worten des dritten Aktes, aus: »Verwandte, mein lieber Herr Notar, sind zu Leb-
zeiten etwas so Widerwärtiges, daß der Verkehr mit ihnen durch den Tod ein- für
allemal zu Ende sein muß!«
Wozu sie verschmitzt lächelte und mich bat, ihr für den kommenden Winter eine
Rolle auf den mächtigen Leib zu schreiben.
Da diesmal meine Spieler gut genährt waren und nicht, wie bei meiner ersten
Truppe, die Hungergage von fünf Mark pro Tag hatten, und ich selbst in Willys
Weinstuben, Marburger Straße, mit Haut Sauternes und einer Ananaseisbombe an-
ständig gepflegt wurde, gelang es unseren vereinten Kräften, das knorrige Stück,
vor dem ein Teil des miesen Publikums sich in innerem Abscheu bog, trotz einer
mir glacial gegenübersitzenden Presse zu einem Erfolg von über vierzig Vorstel-
lungen zu führen. Wiederum fanden die Zeitungen außer dem Regisseur der Ur-
aufführung meine Einstudierung gut, und nur Felix Hollaender stellte als Reporter
des »Achtuhr-Abendblatts« fest: »Es war, Gott strafe mich, eine niederträchtige
Vorstellung!«
Aber Gott strafte ihn nicht, weil er von den deutschen Blättern bekanntlich nur
den »Querschnitt« liest, nichts von Hollaenders Blasphemie erfuhr.

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