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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 4.1924

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Heft 4
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Pirandello, Luigi: Drunter und Drüber
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https://doi.org/10.11588/diglit.62257#0455

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Aus den Häusern, von den Straßen der Stadt stieg schon lange nicht
der geringste Lärm mehr empor. Nur ab und zu ein Wagenrollen in
der Ferne.
Die Nacht war drückend schwül; Professor Carmelo Sabato hatte zu-
erst seine Krawatte gelöst, dann seinen Kragen abgeknöpft, darauf noch
die Weste geöffnet und das Hemd über seiner zottigen Brust, und endlich
ungeachtet der Ermahnung Lamellas: „Mein teurer Meister, das wird
Ihnen nicht bekommen!", hatte er seinen Rock ausgezogen und unter
reichlichem Stöhnen sich untergelegt, um auf der harten Holzbank — die
Beine lagen ausgestreckt zu beiden Seiten eines durch Regen und Kälte
morschgewordenen Tischchens — besser zu sitzen.
Den großen, kahlen, glattrasierten Kopf ließ er schwer herabhängen;
unter den dichten, überfallenden Augenbrauen waren die trüben, rot-
unterlaufenen Augen halb geschlossen, und er sprach mit schwacher, ver-
schleierter, stockender Stimme wie ein aus dem Traum Stöhnender:
„Mein kleiner Henry, mein lieber, kleiner Henry," sagte er, „du
quälst mich . . . Ich versichere dich, du quälst mich, quälst mich furcht-
bar . . ."
Lamella, ein kleiner, blonder Mann, mager und gallig, von äußerster
Nervosität, lag in einer Art Hängematte, die am Kopfende in einem an
der Mauer der Terrasse befestigten Ring, am Fußende an zwei an dem
Querbalken des Geländers befestigten Eisenstangen hing. Wenn er den
Arm ausstreckte, konnte er die auf der Erde stehenden Flaschen erreichen.
Regelmäßig ergriff er die schon geleerte Flasche und wurde darüber ge-
reizt. Bei einem solchen Fehlgriff stieß er sie mit dem Handrücken um,
und sie rollte den abschüssigen Boden entlang, zur größten Bestürzung
des alten Professors Sabato, der sich auf alle Viere warf und rutschend
die Flasche einzuholen versuchte, wobei er in verängstigtem Tone greinte:
„Ich bitte dich ... ich bitte dich . . . bist du denn verrückt ... da
unten glauben sie ja, es donnert!"
Lamella vollführte beim Sprechen die seltsamsten Verzerrungen; er
konnte sich keinen Augenblick ruhig verhalten, zog sich in sich zu-
sammen, reckte sich, fuchtelte mit Händen und Füßen in der Luft herum:
„Ich weiß sehr wohl, daß ich Sie quäle, mein teurer Meister, aber das
tue ich absichtlich. Sie müssen gesunden! Ich will Sie wieder erwecken!
Und ich wiederhole Ihnen, daß Ihre Ideen veraltet sind, veraltet, veraltet
...Denken Sie doch einmal ordentlich darüber nach, und Sie werden mir
recht geben!"
Mein kleiner Henry, mein lieber, kleiner Henry, das sind keine
Ideen," flehte Sabato in seinem stockenden, kläglichen Tone. „Früher
einmal, da waren das vielleicht Ideen! Heute ist es ein Gefühl, ein Be-

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