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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 4.1924

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Heft 5
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Zimmer, Heinrich Robert: Winke für Katzenzucht
DOI Artikel:
Jawitsch, A.: Im Norden Russlands
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https://doi.org/10.11588/diglit.62257#0536

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in geraden Säulen. So sieht es aus — die Säule zerstäubt — der Zug bricht sie
auseinander.
Lange heulte der Schneesturm, dann aber lachte er... und erst spät in der
Nacht fing er an zu weinen vor Ermüdung und weinte bis an den frühen
Morgen... bis an den frühen Morgen. Der Morgen naht hier mitten in dunkler
Nacht, das Morgengrauen aber in dunkel-violetter Dämmerung. Abends beginnt
die lange, zweiundzwanzig Stunden währende Polarnacht... Zwanzig Stunden
weinte der Schneesturm, zwanzig Stunden streute er weiße Schneeasche über sein
Haupt und stöhnte und „schluchzte"...
Seht ihr nicht, wer da schluchzt? Die Menschen sagen: die kilometerlangen
Kirchhöfe, die sich rechts und links vom Bahndamm hinziehen, wären erwacht —
die ewigen Denkmäler, errichtet den Tausenden, die hier umkamen, erfroren, vom
Schnee verschüttet wurden, den Erbauern dieses „Weges". Andere aber fügen hin-
zu: es stöhnen die viertausend Hungernden von der Wolga, die in der Schneewüste
umkamen. Niemand weiß, wer es ist, der da weint.
Jemand klopfte dreimal ans Fenster. Der Schneesturm klopfte da und lachte
auf in tausend zerstäubenden Brillanten, vom Schein des Lichts getroffen. Wie
schrecklich!
„Warum hält der Zug? Warum..."
„Man kann nicht weiterfahren... der Weg ist verschneit... der Zug ist im
Schnee steckengeblieben. Bis zum Morgen müssen wir hier liegen", sagte der
Mensch und setzte sich.
Der Schneesturm weinte wie ein Kind; das Gestöber aber trieb auf in weißem
Serpentintanz und überschüttete den Zug.
„Wir haben uns an dieses Land gewöhnt... Wir haben keine Angst", so
sprach ein weißhaariger Alter zu den Versammelten. „Die Menschen hier haben
sich mit der Gefahr gar zu gut eingelebt. Hier im Schnee zu sterben, ist für uns
dasselbe, wie für euch der Tod im Daunenbett. Und was hier an Menschen um-
gekommen ist, wißt ihr's?l"
Der greise weiße Mensch erzählte bis an den Morgen von den Tausenden, die
hier umkamen. An alles erinnert er sich, denn er ist alt. Wieviel Jahre er schon
in diesem Lande wohnt, weiß er nicht mehr.
„Wer kann's sagen..."
Er erzählte vom Bau der Bahn und von den Opfern, die der Norden sich
gefordert hatte.
„Vor dem Bahnbau war es so, daß man die Vögel mit Stöcken töten konnte,
oder man konnte sie mit bloßen Händen greifen, jetzt aber... Jetzt wird man
hundert Meilen in der Runde an der Bahn keine Krähe finden. Und noch will ich
euch sagen: der ,Weg' hat wohl Leben in den Kreis gebracht, wer kann 's leugnen ?
Aber Menschen hat er ohne Zahl gemordet, Wälder gefressen, Tiere und Vögel
verjagt..."
Schon von altersher kamen Menschen in dieses Land gefahren. Sie kommen
und machen sich immer an den Bächen zu schaffen. Das sind die nordischen
Perlenfischer. Die Lappländer sagen, daß ihre Kinder oft hübsche Steine in den
Bächen finden. Der hübschen Steine gibt es abertausende. Auch der Alte ist ein
Perlensucher.
„Das Suchen ist hier nur sehr schwierig. Im Sommer dehnt sich ringsum
stinkendes Moor, da kommt man nicht durch... und im Winter... im Winter, da
haben wir eben gesucht. Acht Mann waren wir, vier Winter durch haben wir ge-
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