Eisgang.
(Aus „Uferleute, Geschichten vom unteren Rhein“.)
Von Wilhelm Schmidt.
Am zweiten und dritten Tag begann sich am
Ufer entlang das Saumeis zu bilden, ein meter-
breiter Streifen, der an der Mauer des Ufers
festhing und schräg zu dem über Nacht niedriger
gewordenen Wasser hinabführte. Hier und da
versuchten schreiende Kinder darauf zu treten
oder warfen den Hunden kleine Steine hinunter.
Am vierten Tag kamen die ersten Schollen,
oft nur handgross, hin und wieder so gross wie
ein Tisch, selten so gross wie ein Wagen. Manch-
mal stiegen sie plötzlich aus dem Wasser auf,
wie vom Grund hinaufgestossen, und schwammen
dann schnell und sich drehend weiter. Es waren
aber noch so wenige, dass jede ihren eigenen
Weg nahm, dass überall weite Zwischenräume
waren und nie eine an die andere stiess.
Am fünften und sechsten Tag wurde die
Kälte so streng, dass die breite Uferstrasse wie
leer geblasen war. Das Gelb und Blau der
Landschaft nahm eine matte, glanzlose Farbe
an, die Sonne drang nur noch schwach durch
die erstarrte Luft, und auf den Eisenstangen des
Geländers standen aufrechte, winzige Eisstäb-
chen, wie Eisenfeilspäne auf einem Magneten.
Wenn jemand schnell am Rhein vorbeiging, so
sahen sein Bart und seine Augenbrauen bald
wie beschneit aus.
Am Nachmittag des sechsten Tages endlich
wurde der Himmel dick und gelb und legte sich
wie eine ungeheure Masse auf die schwarzen
Giebel der Dächer. Der Qualm der Fabriken
konnte nicht mehr aufsteigen und zog, das Atmen
schwer machend, durch die Strassen. Und eine
Stunde später fing es zu schneien an.
Ganze Reihen der kurzen zweiräderigen
Karren fuhren am Ufer eine neben die andere
auf, so, dass die Pferde die Köpfe den Häusern
zu hatten, und ganze Berge von Schnee wurden
aus den umgestülpten Fahrzeugen in den schwarz
und schwer gewordenen Strom hinuntergeworfen.
Damit aber hatte der Frost auch sein Ende
erreicht. Über Nacht kam der warme Wind
vom Meere her, und von allen Dächern fing das
Tauwasser lärmend durch die blechernen Kallen
zu laufen an.
An der Rathausmauer wurden kleine Zettel
angeklebt mit den Wassernachrichten vom obern
Rhein. Neugierige kamen von allen Seiten,
lachten, schüttelten besorgt die Köpfe, sprachen
von früheren Jahren.
Das Wasser stieg, das Eis kam.
Alle paar Stunden wurden neue Zettel be-
festigt, das Wasser wuchs immer mehr. Man
bestimmte schon die Stunde, wo das Eis an dem
äussersten Punkt der Ufermauer anlangen würde.
Mittags wanderten am Rhein entlang dichte
Menschenscharen, dem Wasser entgegen, alle
die Köpfe nach dem Strom hingedreht, alle mit
den Fingern und Stöcken zeigend.
Ein letzter Nachen strebte noch, von kurzen
Ruderschlägen gejagt, nach dem andern Ufer.
Auch dort sah man Menschen, klein wie Zwerge
und schwarz, zusammenstehen und die Arme
ausstrecken.
Die Geländer waren losgeschraubt und an
den Boden hingelegt worden, hier und da war
die Uferstrasse mit Eisenschienen und mächtigen
Holzbalken, alle mit fauststarken Stricken an-
einander gebunden, versperrt, um die Alleen und
Anlagen des Ufers gegen die Wucht des lang-
sam anziehenden Eises, falls der Strom über den
höchsten Rand der Werftmauer treten sollte, zu
schützen.
Das Moseleis kam zuerst. Genau zur Minute
rückte es an, pünktlich wie ein von Menschen-
hand geordnetes Schauspiel, fast ohne Vorboten,
in gerader, abgegrenzter Linie, die sich über den
ganzen Strom bis zum andern Ufer hinzog. Die
Schollen waren klein, kreisrund, schwarz und
durchsichtig wie Glas. Eine stiess die andere
voran. Hier schoben sich zwei mit den Rändern,
wie zwei Zahnräder, aneinander vorbei, indem
sie sich um sich selber drehten; da strebte eine
von ihren Nachbarn weg und schoss, mitten
durch eine Schar hindurch, auf eine ganz be-
stimmte andere hin, an die sie sich festhing
und die sie nicht mehr losliess. Jedesmal, wenn
zwei zusammenstiessen, gab es das scharfe, klare
Klingen, an dem die Schiffer auch bei Nacht
das Moseleis erkennen, ein Klingen, wie wenn
an Glas geschlagen wird. Und das Klingen all
der tausenden und tausenden Schollen vereinte
sich in einen endlosen, singenden Ton, fein und
leise, der die feuchte, schwere Luft, wie aus
irgend einer Ferne kommend, durchschnitt. Leicht
und ssink, schaukelnd und sich drehend, in un-
aufhaltsamem Vorwärtsschieben schwamm die
Masse dahin, kein Ende nehmend. Es war wie
ein Tanz, auf den man von oben hinuntersah
und der ein schwindelndes Gefühl vor den Augen
hervorrief.
Mit der kommenden Dämmerung rückten die
Schollen plötzlich enger aneinandergeschlossen
heran. Kaum noch eine Lücke war sichtbar.
Es war, als ob eine ungeheure Herde Schafe
sich in Angst vor den hineinfahrenden Hunden
zusammendränge. Der klare, singende Ton be-
gann zu zittern, zu brechen, dumpfe Schläge
dröhnten dazwischen, deren Ursache nicht zu
erkennen war. Ein merkwürdiges Pfeifen, Zischen,
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(Aus „Uferleute, Geschichten vom unteren Rhein“.)
Von Wilhelm Schmidt.
Am zweiten und dritten Tag begann sich am
Ufer entlang das Saumeis zu bilden, ein meter-
breiter Streifen, der an der Mauer des Ufers
festhing und schräg zu dem über Nacht niedriger
gewordenen Wasser hinabführte. Hier und da
versuchten schreiende Kinder darauf zu treten
oder warfen den Hunden kleine Steine hinunter.
Am vierten Tag kamen die ersten Schollen,
oft nur handgross, hin und wieder so gross wie
ein Tisch, selten so gross wie ein Wagen. Manch-
mal stiegen sie plötzlich aus dem Wasser auf,
wie vom Grund hinaufgestossen, und schwammen
dann schnell und sich drehend weiter. Es waren
aber noch so wenige, dass jede ihren eigenen
Weg nahm, dass überall weite Zwischenräume
waren und nie eine an die andere stiess.
Am fünften und sechsten Tag wurde die
Kälte so streng, dass die breite Uferstrasse wie
leer geblasen war. Das Gelb und Blau der
Landschaft nahm eine matte, glanzlose Farbe
an, die Sonne drang nur noch schwach durch
die erstarrte Luft, und auf den Eisenstangen des
Geländers standen aufrechte, winzige Eisstäb-
chen, wie Eisenfeilspäne auf einem Magneten.
Wenn jemand schnell am Rhein vorbeiging, so
sahen sein Bart und seine Augenbrauen bald
wie beschneit aus.
Am Nachmittag des sechsten Tages endlich
wurde der Himmel dick und gelb und legte sich
wie eine ungeheure Masse auf die schwarzen
Giebel der Dächer. Der Qualm der Fabriken
konnte nicht mehr aufsteigen und zog, das Atmen
schwer machend, durch die Strassen. Und eine
Stunde später fing es zu schneien an.
Ganze Reihen der kurzen zweiräderigen
Karren fuhren am Ufer eine neben die andere
auf, so, dass die Pferde die Köpfe den Häusern
zu hatten, und ganze Berge von Schnee wurden
aus den umgestülpten Fahrzeugen in den schwarz
und schwer gewordenen Strom hinuntergeworfen.
Damit aber hatte der Frost auch sein Ende
erreicht. Über Nacht kam der warme Wind
vom Meere her, und von allen Dächern fing das
Tauwasser lärmend durch die blechernen Kallen
zu laufen an.
An der Rathausmauer wurden kleine Zettel
angeklebt mit den Wassernachrichten vom obern
Rhein. Neugierige kamen von allen Seiten,
lachten, schüttelten besorgt die Köpfe, sprachen
von früheren Jahren.
Das Wasser stieg, das Eis kam.
Alle paar Stunden wurden neue Zettel be-
festigt, das Wasser wuchs immer mehr. Man
bestimmte schon die Stunde, wo das Eis an dem
äussersten Punkt der Ufermauer anlangen würde.
Mittags wanderten am Rhein entlang dichte
Menschenscharen, dem Wasser entgegen, alle
die Köpfe nach dem Strom hingedreht, alle mit
den Fingern und Stöcken zeigend.
Ein letzter Nachen strebte noch, von kurzen
Ruderschlägen gejagt, nach dem andern Ufer.
Auch dort sah man Menschen, klein wie Zwerge
und schwarz, zusammenstehen und die Arme
ausstrecken.
Die Geländer waren losgeschraubt und an
den Boden hingelegt worden, hier und da war
die Uferstrasse mit Eisenschienen und mächtigen
Holzbalken, alle mit fauststarken Stricken an-
einander gebunden, versperrt, um die Alleen und
Anlagen des Ufers gegen die Wucht des lang-
sam anziehenden Eises, falls der Strom über den
höchsten Rand der Werftmauer treten sollte, zu
schützen.
Das Moseleis kam zuerst. Genau zur Minute
rückte es an, pünktlich wie ein von Menschen-
hand geordnetes Schauspiel, fast ohne Vorboten,
in gerader, abgegrenzter Linie, die sich über den
ganzen Strom bis zum andern Ufer hinzog. Die
Schollen waren klein, kreisrund, schwarz und
durchsichtig wie Glas. Eine stiess die andere
voran. Hier schoben sich zwei mit den Rändern,
wie zwei Zahnräder, aneinander vorbei, indem
sie sich um sich selber drehten; da strebte eine
von ihren Nachbarn weg und schoss, mitten
durch eine Schar hindurch, auf eine ganz be-
stimmte andere hin, an die sie sich festhing
und die sie nicht mehr losliess. Jedesmal, wenn
zwei zusammenstiessen, gab es das scharfe, klare
Klingen, an dem die Schiffer auch bei Nacht
das Moseleis erkennen, ein Klingen, wie wenn
an Glas geschlagen wird. Und das Klingen all
der tausenden und tausenden Schollen vereinte
sich in einen endlosen, singenden Ton, fein und
leise, der die feuchte, schwere Luft, wie aus
irgend einer Ferne kommend, durchschnitt. Leicht
und ssink, schaukelnd und sich drehend, in un-
aufhaltsamem Vorwärtsschieben schwamm die
Masse dahin, kein Ende nehmend. Es war wie
ein Tanz, auf den man von oben hinuntersah
und der ein schwindelndes Gefühl vor den Augen
hervorrief.
Mit der kommenden Dämmerung rückten die
Schollen plötzlich enger aneinandergeschlossen
heran. Kaum noch eine Lücke war sichtbar.
Es war, als ob eine ungeheure Herde Schafe
sich in Angst vor den hineinfahrenden Hunden
zusammendränge. Der klare, singende Ton be-
gann zu zittern, zu brechen, dumpfe Schläge
dröhnten dazwischen, deren Ursache nicht zu
erkennen war. Ein merkwürdiges Pfeifen, Zischen,
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