Die Macht der Schwachen.
Idylle aus einer schweizerischen Kleinstadt.
Von Adolf Vögtlin.
ie fahle Dämmerung schritt langsam die
breite Hauptstrasse des alten Städt-
chens dem Fluss zu, der srühlings-
mächtig seine’ brausenden Wogen im
tiefen grauen Felsenbett dahintrieb.
Noch stand sie hier zögernd und sinnend im
Dunkel des klotzigen schwarzen Turmes, der
seit einem Jahrtausend neben der steinernen
Brücke Wache hielt. Aber hinter dem jen-
seitigen, mit einem trotzigen Rundturm bewehrten
Stadtteil stiegen die grünenden Weinberge be-
reits in die erste Morgenhelle hinein, und der
Wald, der ihre Stirne krönte, badete seine Wipfel
in goldiger Lichtssut. Es war Zeit, sich zu ver-
ziehen. Da tauchten aus der Tiefe des Fluss-
bettes qualmende Nebelwolken auf und um-
hüllten ihre Gestalt, die immer durchsichtiger
werdende Schatten in die Strasse hineinwarf.
Von einer Seitengasse her, welche sich quer
über die Hauptstrasse fortsetzte und mit dieser
das diesseitige Städtchen in vier fast gleich
grosse Quartiere zerschnitt, dröhnte aus dem
hohen Portal eines gewaltigen, schwerfälligen
Baues heraus rollender Trommelwirbel, als
müssten die Toten auferstehen: Brrr — rämpedä-
pomm, brrr — rämpedäpomm, brrr — rämpedä —
pämpedä — pomm — pomm — pomm.
Gleich wurde es lebendig in dem Gebäude
wie in einem Ameisenhaufen, dessen Frieden
man mit einem Fusstritt zerstiess, in allen Räumen
erwachte der Lärm und ergoss sich über die
Flure und Treppen. Männer in blauen Hosen
und farbigen Hemden, weisse Waschtücher unterm
Arm, stürzten in Schwärmen noch schlaftrunken
aus dem Portal heraus dem grossen, vieleckigen
Becken des Hofstadtbrunnens zu. Ein junger
Stabshauptmann, an dessen Beinkleidern breite
scharlachfarbige Streifen durch das zarte Zwie-
licht funkelten, sprang, mit Befehlspapieren in
der Hand, leichtfüssig die Portaltreppe hinauf,
während der vor dem rot und weiss gestrichenen
Schilderhaus wachestehende Soldat eilig Stellung
annahm. Einige Schenkwirte, deren verlockende
Häuser an den Kasernenplatz stiessen, öffneten
die Türen, da und dort stahl sich ein Soldat
hinein, um nach der äussern Waschung eine
innere Befeuchtung vorzunehmen, nachdem er
sich vergewissert, dass kein Osfizier auf dem
Auslug stand.
Im stattlichen Gasthof zum Roten Haus, der
oben an der Hauptstrasse mit langen Fenster-
ssuchten auslud und das zu ihm gehörige Stadt-
viertel durch seine Wucht erdrückte, ging die
Stalltür auf, hurtige Osfiziersbediente in Leder-
hosen zogen edle Pferde heraus und führten sie
zur Tränke, im oberen Stockwerk wurden Fenster-
laden ausgestossen, ein Oberst im Morgenanzug
erschien auf einem Balkon. Es war der Leiter
der Pontonnierschule und zugleich Platzkomman-
dant, der mit seinem Adjutanten hier logierte,
weil die Kaserne keine seiner würdigen Unter-
kunftsräume bot. Der schaute gravitätisch nach
dem Wetter aus und strich sich den lang aus-
gezogenen militärischen Knebelbart.
Unter ihm knarrte die schwere Haupttüre
des Gasthofs, sie ging auf und wurde rasch
wieder eingehängt; wie ein Schatten so leicht
huschte ein Mädchen quer über die Strasse und
verschwand in der engen, überwölbten Seiten-
gasse. In diese fast noch nächtlich dunkle
Gasse, in die nie ein Strahl der Sonne fiel,
ssammte aus einem mächtigen Fenster zu ebener
Erde ein roter Glutschein heraus, der am gegen-
überliegenden, fensterlosen Gebäude als grosses
Viereck brannte, das vom Schatten des Fenster-
kreuzes durchschnitten war; jetzt zeichnete sich
der riesige Schatten des Mädchens darin ab,
bald kauerte er sich nieder: das Mädchen stand
am Fenster und suchte, sich vornüberbeugend
und die Hand über die Augen spreitend, durch
die trüben, mehlbestäubten Scheiben zu blicken.
Als sie die Nase ans Glas drückte, sah sie, wie
in dem gluterhellten Raume fratzenhafte Schatten-
risse umherzuckten; bald tanzten sie oben an
der Diele und kreuzten sich zappelnd mit den-
jenigen der Lampe, oder sie glitten über die
Teigmulde hinweg und fingen sich in den ge-
spenstischen Armen einer grossen Schalenwage,
um sich denselben mit Blitzesschnelle wieder zu
entwinden und an der Wand, welche dem Back-
ofen gegenüberstand, einen wilden Negertanz
aufzuführen; plötzlich huschten sie wieder am
Boden hin, auf welchem Teigwaren auf Tüchern
und Brettern und Blechen ausgebreitet lagen,
und verschwanden endlich, als der junge Mann,
der vor dem Ofentor stand und die glühenden
Kohlen herauszog, sich in die Ofengrube hinab-
bückte, um mit einer langen Holzstange das
nasse Tuch aus dem Wassereimer unter der
Wölbung herauszufischen und mit dem Wedel
den überheizten Ofen ssink auszukehren und
abzukühlen. Jetzt streute er mit den Finger-
spitzen Mehl hinein, wahrscheinlich, um die
Ofenplatten auf ihre Hitze zu prüsen, dann
schloss er das Ofentor und zog rasch einige
eiserne Stangenschieber, welche die Temperatur
gleichmässig im Ofen verteilen und regeln sollten.
Dies getan, setzte er sich auf einen der Tritte,
die aus der Ofengrube zum Fussboden hinauf-
sührten, und verschränkte die muskelstarken Arme
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Idylle aus einer schweizerischen Kleinstadt.
Von Adolf Vögtlin.
ie fahle Dämmerung schritt langsam die
breite Hauptstrasse des alten Städt-
chens dem Fluss zu, der srühlings-
mächtig seine’ brausenden Wogen im
tiefen grauen Felsenbett dahintrieb.
Noch stand sie hier zögernd und sinnend im
Dunkel des klotzigen schwarzen Turmes, der
seit einem Jahrtausend neben der steinernen
Brücke Wache hielt. Aber hinter dem jen-
seitigen, mit einem trotzigen Rundturm bewehrten
Stadtteil stiegen die grünenden Weinberge be-
reits in die erste Morgenhelle hinein, und der
Wald, der ihre Stirne krönte, badete seine Wipfel
in goldiger Lichtssut. Es war Zeit, sich zu ver-
ziehen. Da tauchten aus der Tiefe des Fluss-
bettes qualmende Nebelwolken auf und um-
hüllten ihre Gestalt, die immer durchsichtiger
werdende Schatten in die Strasse hineinwarf.
Von einer Seitengasse her, welche sich quer
über die Hauptstrasse fortsetzte und mit dieser
das diesseitige Städtchen in vier fast gleich
grosse Quartiere zerschnitt, dröhnte aus dem
hohen Portal eines gewaltigen, schwerfälligen
Baues heraus rollender Trommelwirbel, als
müssten die Toten auferstehen: Brrr — rämpedä-
pomm, brrr — rämpedäpomm, brrr — rämpedä —
pämpedä — pomm — pomm — pomm.
Gleich wurde es lebendig in dem Gebäude
wie in einem Ameisenhaufen, dessen Frieden
man mit einem Fusstritt zerstiess, in allen Räumen
erwachte der Lärm und ergoss sich über die
Flure und Treppen. Männer in blauen Hosen
und farbigen Hemden, weisse Waschtücher unterm
Arm, stürzten in Schwärmen noch schlaftrunken
aus dem Portal heraus dem grossen, vieleckigen
Becken des Hofstadtbrunnens zu. Ein junger
Stabshauptmann, an dessen Beinkleidern breite
scharlachfarbige Streifen durch das zarte Zwie-
licht funkelten, sprang, mit Befehlspapieren in
der Hand, leichtfüssig die Portaltreppe hinauf,
während der vor dem rot und weiss gestrichenen
Schilderhaus wachestehende Soldat eilig Stellung
annahm. Einige Schenkwirte, deren verlockende
Häuser an den Kasernenplatz stiessen, öffneten
die Türen, da und dort stahl sich ein Soldat
hinein, um nach der äussern Waschung eine
innere Befeuchtung vorzunehmen, nachdem er
sich vergewissert, dass kein Osfizier auf dem
Auslug stand.
Im stattlichen Gasthof zum Roten Haus, der
oben an der Hauptstrasse mit langen Fenster-
ssuchten auslud und das zu ihm gehörige Stadt-
viertel durch seine Wucht erdrückte, ging die
Stalltür auf, hurtige Osfiziersbediente in Leder-
hosen zogen edle Pferde heraus und führten sie
zur Tränke, im oberen Stockwerk wurden Fenster-
laden ausgestossen, ein Oberst im Morgenanzug
erschien auf einem Balkon. Es war der Leiter
der Pontonnierschule und zugleich Platzkomman-
dant, der mit seinem Adjutanten hier logierte,
weil die Kaserne keine seiner würdigen Unter-
kunftsräume bot. Der schaute gravitätisch nach
dem Wetter aus und strich sich den lang aus-
gezogenen militärischen Knebelbart.
Unter ihm knarrte die schwere Haupttüre
des Gasthofs, sie ging auf und wurde rasch
wieder eingehängt; wie ein Schatten so leicht
huschte ein Mädchen quer über die Strasse und
verschwand in der engen, überwölbten Seiten-
gasse. In diese fast noch nächtlich dunkle
Gasse, in die nie ein Strahl der Sonne fiel,
ssammte aus einem mächtigen Fenster zu ebener
Erde ein roter Glutschein heraus, der am gegen-
überliegenden, fensterlosen Gebäude als grosses
Viereck brannte, das vom Schatten des Fenster-
kreuzes durchschnitten war; jetzt zeichnete sich
der riesige Schatten des Mädchens darin ab,
bald kauerte er sich nieder: das Mädchen stand
am Fenster und suchte, sich vornüberbeugend
und die Hand über die Augen spreitend, durch
die trüben, mehlbestäubten Scheiben zu blicken.
Als sie die Nase ans Glas drückte, sah sie, wie
in dem gluterhellten Raume fratzenhafte Schatten-
risse umherzuckten; bald tanzten sie oben an
der Diele und kreuzten sich zappelnd mit den-
jenigen der Lampe, oder sie glitten über die
Teigmulde hinweg und fingen sich in den ge-
spenstischen Armen einer grossen Schalenwage,
um sich denselben mit Blitzesschnelle wieder zu
entwinden und an der Wand, welche dem Back-
ofen gegenüberstand, einen wilden Negertanz
aufzuführen; plötzlich huschten sie wieder am
Boden hin, auf welchem Teigwaren auf Tüchern
und Brettern und Blechen ausgebreitet lagen,
und verschwanden endlich, als der junge Mann,
der vor dem Ofentor stand und die glühenden
Kohlen herauszog, sich in die Ofengrube hinab-
bückte, um mit einer langen Holzstange das
nasse Tuch aus dem Wassereimer unter der
Wölbung herauszufischen und mit dem Wedel
den überheizten Ofen ssink auszukehren und
abzukühlen. Jetzt streute er mit den Finger-
spitzen Mehl hinein, wahrscheinlich, um die
Ofenplatten auf ihre Hitze zu prüsen, dann
schloss er das Ofentor und zog rasch einige
eiserne Stangenschieber, welche die Temperatur
gleichmässig im Ofen verteilen und regeln sollten.
Dies getan, setzte er sich auf einen der Tritte,
die aus der Ofengrube zum Fussboden hinauf-
sührten, und verschränkte die muskelstarken Arme
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