Segantini.
Von Prof. Carl Neumann in Heidelberg (jetzt Göttingen).
S ist ein zweifelloser und bleibender
Ruhm der bildenden Kunst des 19. Jahr-
hunderts, dass die Landschaftsmalerei
zu neuer Entwicklung gediehen ist
und dem lebendigen, weitverbreiteten
Naturgefühl einen fast durchaus neuzuschaffenden
Ausdruck verliehen hat. England, Frankreich,
Deutschland sind, jedes Land in eigentümlicher
Weise, an dieser Neuschöpfung beteiligt. Eines
aber muss, wenn man das Verhältnis von Natur-
gefühl und Landschaftsmalerei ins Auge fasst,
besonders ausfallen. Indes das neunzehnte Jahr-
hundert, dessen erste Jahrzehnte durchaus im
Zeichen der Romantik standen, sein Naturgefühl
in dem Bevorzugen des Unendlichen und Grenzen-
losen, in der Liebe für Meer und Hochgebirge
aussprach und im Meer oder in der Schweiz seine
Lieblingsreiseziele gefunden hat, ist wenigstens
die Hochgebirgslandschaft die längste Zeit kein
Gegenstand der Malerei gewesen. Alle Welt
hat immer und immer die Hochalpen aufge-
sucht; nur die Maler machten eine Ausnahme.
Segantini hat diesen Bann gebrochen; er
ist unbedingt der Schöpfer der Hochgebirgs-
landschast in der Malerei, künstlerischer Ent-
decker und Eroberer zugleich.
Will man die Selbständigkeit und Kühnheit
seiner Künstlernatur voll würdigen, so muss
man des grossen Unterschiedes inne werden,
der zwischen dem Farbenproblem, das die Hoch-
alpenlandschaft stellt, und dem herrschenden
zeitgenössischen Farbengeschmack besteht. Die
Bewegung des Pleinairismus hat die Erkenntnis
der Abhängigkeit aller Lokalfarbe von Licht und
Luft überallhin verbreitet. In Regen- und Sonnen-
scheinlandschaften ist das Verfahren, die Form
wie Farbe auflösenden Ressexe zu beobachten,
zum Tod aller festumzeichneten Form wie jeder
absoluten Farbe geworden. Die weiche Musik
sanft ineinander übergehender Tonarten hält
jeden Sinn gefangen, und die farbig schön ab-
gestimmten Landschaftsbilder der schottischen
Maler gehören zu den bestverkäuflichen Stücken
des heutigen Kunsthandels.
Diesen Tatsachen gegenüber zeigt das Hoch-
gebirge seinen gänzlich abweichenden, mit der
herrschenden Geschmacksrichtung kaum aus-
zugleichenden Charakter. Trockene Luft mit
scharfgeschnittenen Formen und starke, ja grelle
Farbengegensätze. Keine Wälder, die sich mit
schwankendem Wipfelsaum erweichend über
die Bergsormen legen, sondern nackter Stein-
umriss; statt der Feuchtigkeit und dem Dunst
der Tiefe eine dünne, unerbittlich durchsichtige,
jeden Gegenstand isolierende Luft. Statt der
vielfachen, miteinander zu stimmenden und ins
Gleichgewicht zu bringenden Farben des Mittel-
gebirges und der Ebene wenige, in grossen
Massen gegeneinanderstehende Farbkörper: das
Blau des Himmels, das blendende Weiss von
Schnee und Gletscherssächen, das starke Grün
der Alpenweiden, das an die Stelle der wechseln-
den Farbenschichten anbaufähigen Bodens, der
gelben Korn-, der grünen Haferfelder u. s. f.
getreten ist. Dieses massige Blau, Weiss und
Grün kann dem normalen verwöhnten Farben-
geschmack als eine unangenehme, ja hässliche
Zusammenstellung gelten. Nimmt man hinzu,
dass der Maler auf einen engeren Rahmen als
die Naturwirklichkeit angewiesen ist, wobei die
Farben, näher zusammengedrängt, sich noch
unsanfter stossen, so wird es begreiflicher, wes-
halb man so lange gerade dieser künstlerischen
Aufgabe aus dem Weg gegangen ist.
Diese Schwierigkeiten zu besiegen, wäre
Segantini nicht möglich gewesen, hätte er sich
nicht in freiwilliger Einsamkeit abseits von der
Verführung grosser Kunstbetriebsmittelpunkte
gehalten und aus dieser Einsamkeit Kraft und
Leidenschaft geschöpft, seinem Naturobjekt
immer vertrauter zu werden, ihm immer erfolg-
reicher die Geheimnisse des Zusammenhangs
von Form und Geist seiner Gestaltung abzu-
fragen. Alle Eroberungen auf dem Gebiet der
Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts sind
durch kleine Kolonien gemacht worden, welche
sich von der übereinkömmlichen Kunstbildung
abgelöst und die Einsamkeit aufgesucht haben.
Der Wald von Fontainebleau hat ein weit-
wirkendes Beispiel gegeben. Wir haben Worps-
wede, Dachau, Grötzingen und viele andere
solcher kleiner Kolonien entstehen sehen. Zu
ihnen ist das Engadin getreten; aber hier ist
Segantini der einzige Ansiedler und Pionier
gewesen. Nun hat es sich dabei nicht einmal
in erster Linie um die Entdeckung eines neuen
VIII
285
Von Prof. Carl Neumann in Heidelberg (jetzt Göttingen).
S ist ein zweifelloser und bleibender
Ruhm der bildenden Kunst des 19. Jahr-
hunderts, dass die Landschaftsmalerei
zu neuer Entwicklung gediehen ist
und dem lebendigen, weitverbreiteten
Naturgefühl einen fast durchaus neuzuschaffenden
Ausdruck verliehen hat. England, Frankreich,
Deutschland sind, jedes Land in eigentümlicher
Weise, an dieser Neuschöpfung beteiligt. Eines
aber muss, wenn man das Verhältnis von Natur-
gefühl und Landschaftsmalerei ins Auge fasst,
besonders ausfallen. Indes das neunzehnte Jahr-
hundert, dessen erste Jahrzehnte durchaus im
Zeichen der Romantik standen, sein Naturgefühl
in dem Bevorzugen des Unendlichen und Grenzen-
losen, in der Liebe für Meer und Hochgebirge
aussprach und im Meer oder in der Schweiz seine
Lieblingsreiseziele gefunden hat, ist wenigstens
die Hochgebirgslandschaft die längste Zeit kein
Gegenstand der Malerei gewesen. Alle Welt
hat immer und immer die Hochalpen aufge-
sucht; nur die Maler machten eine Ausnahme.
Segantini hat diesen Bann gebrochen; er
ist unbedingt der Schöpfer der Hochgebirgs-
landschast in der Malerei, künstlerischer Ent-
decker und Eroberer zugleich.
Will man die Selbständigkeit und Kühnheit
seiner Künstlernatur voll würdigen, so muss
man des grossen Unterschiedes inne werden,
der zwischen dem Farbenproblem, das die Hoch-
alpenlandschaft stellt, und dem herrschenden
zeitgenössischen Farbengeschmack besteht. Die
Bewegung des Pleinairismus hat die Erkenntnis
der Abhängigkeit aller Lokalfarbe von Licht und
Luft überallhin verbreitet. In Regen- und Sonnen-
scheinlandschaften ist das Verfahren, die Form
wie Farbe auflösenden Ressexe zu beobachten,
zum Tod aller festumzeichneten Form wie jeder
absoluten Farbe geworden. Die weiche Musik
sanft ineinander übergehender Tonarten hält
jeden Sinn gefangen, und die farbig schön ab-
gestimmten Landschaftsbilder der schottischen
Maler gehören zu den bestverkäuflichen Stücken
des heutigen Kunsthandels.
Diesen Tatsachen gegenüber zeigt das Hoch-
gebirge seinen gänzlich abweichenden, mit der
herrschenden Geschmacksrichtung kaum aus-
zugleichenden Charakter. Trockene Luft mit
scharfgeschnittenen Formen und starke, ja grelle
Farbengegensätze. Keine Wälder, die sich mit
schwankendem Wipfelsaum erweichend über
die Bergsormen legen, sondern nackter Stein-
umriss; statt der Feuchtigkeit und dem Dunst
der Tiefe eine dünne, unerbittlich durchsichtige,
jeden Gegenstand isolierende Luft. Statt der
vielfachen, miteinander zu stimmenden und ins
Gleichgewicht zu bringenden Farben des Mittel-
gebirges und der Ebene wenige, in grossen
Massen gegeneinanderstehende Farbkörper: das
Blau des Himmels, das blendende Weiss von
Schnee und Gletscherssächen, das starke Grün
der Alpenweiden, das an die Stelle der wechseln-
den Farbenschichten anbaufähigen Bodens, der
gelben Korn-, der grünen Haferfelder u. s. f.
getreten ist. Dieses massige Blau, Weiss und
Grün kann dem normalen verwöhnten Farben-
geschmack als eine unangenehme, ja hässliche
Zusammenstellung gelten. Nimmt man hinzu,
dass der Maler auf einen engeren Rahmen als
die Naturwirklichkeit angewiesen ist, wobei die
Farben, näher zusammengedrängt, sich noch
unsanfter stossen, so wird es begreiflicher, wes-
halb man so lange gerade dieser künstlerischen
Aufgabe aus dem Weg gegangen ist.
Diese Schwierigkeiten zu besiegen, wäre
Segantini nicht möglich gewesen, hätte er sich
nicht in freiwilliger Einsamkeit abseits von der
Verführung grosser Kunstbetriebsmittelpunkte
gehalten und aus dieser Einsamkeit Kraft und
Leidenschaft geschöpft, seinem Naturobjekt
immer vertrauter zu werden, ihm immer erfolg-
reicher die Geheimnisse des Zusammenhangs
von Form und Geist seiner Gestaltung abzu-
fragen. Alle Eroberungen auf dem Gebiet der
Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts sind
durch kleine Kolonien gemacht worden, welche
sich von der übereinkömmlichen Kunstbildung
abgelöst und die Einsamkeit aufgesucht haben.
Der Wald von Fontainebleau hat ein weit-
wirkendes Beispiel gegeben. Wir haben Worps-
wede, Dachau, Grötzingen und viele andere
solcher kleiner Kolonien entstehen sehen. Zu
ihnen ist das Engadin getreten; aber hier ist
Segantini der einzige Ansiedler und Pionier
gewesen. Nun hat es sich dabei nicht einmal
in erster Linie um die Entdeckung eines neuen
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