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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 6.1903

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Heft 8
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Geiger, Ludwig: Die Aufführung des ganzen Faust
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https://doi.org/10.11588/diglit.45537#0091

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Die Ausführung des ganzen Faust.*
Von Prof. Dr. Ludwig Geiger in Berlin.

Über seinen Götz von Berlichingen hat
Goethe gesagt: „Ein Stück, das nicht ursprüng-
lich mit Absicht und Geschmack des Dichters
für die Bühne geschrieben ist, geht auch nicht
hinauf, und wie man auch damit verfährt, es
wird immer etwas Ungehöriges und Wider-
strebendes behalten.“
Man möchte fast meinen, dass dies für den
Götz geschriebene Wort auch auf den Faust
passe. Nun hat aber Goethe, entgegen seinem
eigenen Ausspruche, sich bis 1819 zu wieder-
holten Malen Mühe gegeben, den Götz bühnen-
fähig zu machen; was Wunder, dass andere
bei dem bedeutendsten Drama des Altmeisters
und einem Wunderwerk der dramatischen Litera-
tur überhaupt sich derselben Anstrengung unter-
zogen haben. Der Meister verhielt sich solchem
Tun gegenüber leidend oder ablehnend.
Den ganzen Faust, dem unsere Betrachtung
gilt, konnte er ja garnicht der Bühne darbieten,
da er die wesentlichen Stücke des zweiten Teils,
zumal einige davon erst gegen das Lebensende
fertig geworden waren, sorgsam unter Verschluss
hielt. Aber auch dem ersten Teil gönnte er
mehr ein totes Bücherdasein, als eine lebendige
Theaterwirksamkeit. Dieser Teil, dessen An-
fänge in die Jahre 1773 bis 1775 fallen, von dem
ein Fragment 1790, der vollendete 1808 erschienen
war, ist bei Goethes Lebzeiten in Weimar nur
ein einziges Mal kurz vor des Dichters Tode
gegeben worden. Ein Versuch zur Ausführung
wurde allerdings schon 1812 gemacht: von P. A.
Wolff mit Korrekturen Goethes.
Danach umfasste Akt 1 die Zueignung und
die beiden Prologe, Akt 2 alles bis zum ersten
Scheiden des Mephisto von Faust, Akt 3 bis zu
Gretchens Worten: „Am Golde hängt doch alles,
ach wir Armen“, Akt 4 die Gretchentragödie
bis zum Ende der Domszene, Akt 5 den Schluss
nebst vorhergehender Walpurgisnacht. Aus der
Aufsührung, die keinerlei Ausscheidungen beab-
sichtigte, — man müsste denn die kleine Szene
„am Rabenstein“ ausnehmen —, ja noch einen
Zusatz, nämlich den einer Bauernhochzeit im
„Osterspaziergang“, plante, wurde nichts. Man
* Für die nachfolgende Skizze sind benutzt die Bear-
beitungen Devrients und Wilbrandts, der Plan Dingelstedts
(vergleiche unten), ferner die älteren Schriften von Enslin,
W. Creizenach: Die Bühnengeschichte des Goetheschen Faust,
Frankfurt 1881, besonders die neuere Arbeit von G. Witkowski:
Goethes Faust aus dem deutschen Theater (Bühne und Welt
1901—1902, 3 Aussätze). Ich bin in dem letzteren Aufsatze
vielen Ansichten begegnet, die ich in Universitätsvorlesungen
und sonst schon seit Jahren ausgesprochen oder im stillen
gehegt habe, und freue mich, diese Übereinstimmung auch
offen auszusprechen. Endlich haben mir durch die Güte der
Direktionen des Schillertheaters in Berlin und des Weimarer
Hoftheaters die von beiden Bühnen ihren Ausführungen zu
Grunde gelegten Textbücher vorgelegen.

muss sagen zum Glück, denn die Einrichtung
trägt kein Goethesches Gepräge an sich, sie
wird, wie wir zu des Dichters Ehre annehmen
müssen, von Wolff herrühren, der ein trefflicher
Schauspieler aber mittelmässiger Dichter war,
und hätte mit ihrer völlig äusserlichen Gliederung
den richtigen Eindruck verfehlt.
Vom zweiten Teil, soweit er fertig war,
hatten nur die Getreuen Kunde. Unter den Ge-
treuen war J. P. Eckermann gewiss der Getreueste.
Er war kein Kammerdiener in dem bekannten
Sinne des Wortes wie Riemer, aber von seiner
Bedeutung fester überzeugt als andere. Er be-
trachtete sich als Hebamme für den zweiten
Teil, mindestens in demselben Sinne, wie man
Schiller den unermüdlich treibenden und an-
regenden Geburtshelfer des ersten Teils wirklich
nennen kann. Er machte schon zu Lebzeiten
des Meisters den Anfang zu einer Bühnen-
bearbeitung des zweiten Teils, sammelte, wie
über alles, so auch über diese Partie Gespräche,
die er wie seine weltberühmten Unterhaltungen
zu bearbeiten und herauszugeben gedachte; 1834
hatte er den Anfang einer nur den zweiten Teil
der Dichtung umfassenden Trilogie zu Ende ge-
bracht, die 1901 ziemlich überssüssiger Weise im
Druck erschien. Denn Neues enthielt dieses
Drittel einer Hälfte, — die zwei übrigen Drittel
sollten der Helena-Episode und Fausts Ende ge-
widmet sein —, das nur den ersten Akt des
zweiten Teils umfasst, wenig, und dies Neue, ein
Gespräch zwischen Faust und Mephisto, das die
Lücke zwischen dem Monolog des Faust nach
seinem von den Elfen bewachten Schlafe und
seinem Erscheinen am Hofe des Kaisers aus-
füllt, wirkt drollig genug durch seine dem Goethe-
schen Altersstil abgeguckte Ausdrucksweise.
Diese kann man auch in den szenischen Be-
merkungen wiedererkennen, die möglicherweise
einzelne Anweisungen des Altmeisters verwerten,
für den modernen Dramaturgen indessen unbe-
deutend sind.
Sonst geschah während des Dichters Leb-
zeiten nur wenig. Klingemanns und Holteis
Faust 1816 und 1828 enthalten doch weit mehr
von ihren Bearbeitern als von dem Dichter,
den man von diesem Stoffe nicht trennen konnte.
Die Weimarer Ausführung 1828, obwohl sie
unter den Augen Goethes geschah, ist theater-
geschichtlich fast nur dadurch wichtig, dass der
Meister dem Schauspieler La Roche die Rolle
des Mephisto einstudierte, und so bleibt eigent-
lich, da wir über Klingemanns Ausführung des
echten Faust in Braunschweig 1829 nicht voll-
ständig unterrichtet sind, nur die dem gleichen
Jahre angehörende Bearbeitung Tiecks übrig,
ein etwas zweifelhaftes Geburtstagsgeschenk für

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