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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 6.1903

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Heft 8
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Geiger, Ludwig: Die Aufführung des ganzen Faust
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https://doi.org/10.11588/diglit.45537#0092

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den Achtzigjährigen. Zweifelhaft deswegen, weil
an des Dichters Gedankenarbeit willkürlich
herumgestrichen und alles entfernt wurde, was
die Gläubigen irgendwie verletzen konnte. Aus
den Dialogen zwischen Faust und Mephisto
nämlich ward das Bedeutendste gestrichen; nicht
„zur Beichte“ hätte Gretchen den Schmuck ge-
tragen, sondern „zu den Armen“, nicht „der
Pfarrer“ sagte etwas Ähnliches wie Fausts
Glaubensbekenntnis, sondern „die Mutter“, und
statt der Verse:
Lebt nur von Fett und Butter,
Hatte sich ein Ränzlein angemäst’,
Als wär’s der Doktor Luther
hiess es:
Lebt nur von Butter und Käse,
Hatte sich ein Ränzlein angemäst’
Wie der gelehrteste Chinese.
Die übrigen zahlreichen Verkürzungen brauchen
nicht weiter erwähnt zu werden, da diese
Tiecksche Bearbeitung kaum irgendwelche Nach-
ahmung fand.
Die Bühnengeschichte des zweiten Teils be-
ginnt mit Eckermanns schon erwähnter Be-
arbeitung des ersten Aktes. Sie wurde im Jahre
1856 in Weimar aufgeführt; sonst indessen blieb
sie unbeachtet; auch die von Eberwein 1845
dazu komponierte Musik konnte dem Stücke die
Bühne nicht erschliessen; vielmehr kam es von
vier Theatern, an die es geschickt worden war:
Weimar, Berlin, Dresden, Hamburg, mit der
Bemerkung zurück, dass es sich zur Ausführung
nicht eigne. Ein anderes Bruchstück, aus Szenen
der drei ersten Akte von Gutzkow zusammen-
gestellt und bearbeitet, wurde 184g in Dresden
zur Darstellung gebracht. Die drei Aufführungen,
welche dieses Stück fand, hatten keinen sonder-
lichen Erfolg, auch ging es auf keine andere
Bühne über. Man braucht die Teilnahmlosigkeit
nicht auf eine durch Vischers absprechende
Kritik entstandene Feindseligkeit gegen den
zweiten Teil und noch weniger auf eine Feind-
schast der Bühnenvorstände gegen den Bearbeiter
zu schieben; denn diese Feindschast bestand
bloss in dem Hirn des an Verfolgungswahn
Krankenden, vielmehr wurden Gutzkows Stücke
sehr gern auf allen möglichen Bühnen gegeben;
ferner pssegen Theatervorstände nicht an über-
mässiger Bildung zu leiden, waren also durch
Vischers Beurteilung gewiss sehr wenig be-
einssusst.
Die erste wirkliche Bearbeitung des ganzen
zweiten Teils erfolgte 1854 durch Wollheim da
Fonseca. Hamburg hatte die Ehre, die erste
Stätte einer solchen Darbietung zu sein, Breslau,
Leipzig, Frankfurt folgten dem gegebenen Bei-
spiele. Aber war es wirklich eine Ehre, mehr
Wollheim als Goethe zu hören? Nur 1500 Verse
waren übrig geblieben, das heisst ein Fünftel
der ganzen Dichtung; für das Fehlende bekam
man 200 ganz neue und 100 willkürlich ver-

änderte Verse zu kosten. Das Wichtigste des
ersten und zweiten Aktes: Mummenschanz und
klassische Walpurgisnacht, existierten nicht, die
Himmelfahrt wurde stark gekürzt, Homunculus,
Euphorion und einer der seligen Knaben wurden
zu einer Person.
Das neu erwachte Interesse für Goethe, das
erst nach dem grossen Schiller-Enthusiasmus
des Jahres 185g eintrat, blieb einstweilen auf die
Leser beschränkt; seit dem Aufhören des Cotta-
schen Privilegs erschienen viele neue Ausgaben
der Werke des Dichters. In diesem Falle zeigte
sich, wie die von Unverständigen oder Halb-
gebildeten mit Unrecht geschmähte Goethe-
philologie — mit Unrecht, wenn sie nicht Wort-
klauberei, sondern das redliche Verlangen nach
tief eindringendem Verständnisse ist — grossen
Nutzen stiftet. Die mannigfachen Kommentare
nämlich eröffneten vielen den richtigen Einblick
in die gewaltige Dichtung, Schriftsteller und
Literarhistoriker, die an der Spitze der Bühnen
standen oder bei deren Leitung ein Wort mit-
zureden hatten, wandten auch der Faustdichtung
ihre Aufmerksamkeit zu: Otto Devrient (1875),
Franz Dingelstedt (1876), Adolf Wilbrandt (1883),
der erste und dritte lieferten wirkliche Be-
arbeitungen, die Wilbrandtsche erschien freilich
erst i8g5 im Druck, Dingelstedt gab nur einen
Vorschlag.
Devrients Faustbearbeitung war nicht nur
die erste, die literarisch wirklich in Betracht
kam, sondern wurde vor allem dadurch bedeut-
sam, dass der Bearbeiter als Künstler (Mephisto)
mitwirkte und selbst sein Stück auf die Bühne
bringen konnte. Dieses Doppelverdienst soll
dem Dichter-Künstler nicht geschmälert werden,
man muss es bekennen: durch Devrient ist
erst der ganze Faust der deutschen Bühne
gegeben worden. Hat man indessen diese
Anerkennung ausgesprochen, so darf man mit
schweren Bedenken nicht zurückhalten. Schon
die Titelbezeichnung „als Mysterium in zwei
Tagewerken“ ist teils sinnlos, denn von Tage-
werken ist ja garnicht die Rede, teils verspricht
sie mehr als sie bieten kann, denn glücklicher-
weise ist Faust kein Mysterium. Die sogenannte
Mysterienbühne aber, Devrients Erfindung: eine
dreistöckige Bühnenteilung, die in verschiedenster
Weise verwertet wird, in den Prologen, in den
Gretchen- und Helenaszenen, in der Walpurgis-
nacht, ist im Grunde nichts anderes als ein
Kunststück, das vielleicht Zeit spart, aber durch
seine Künstlichkeit um den wahren Eindruck
intimer Dekoration bringt. Um nämlich Ver-
wandlungen zu vermeiden, werden Vorgänge
die einen weiten Raum verlangen, in einer
Stube, oder die, die einen engen Raum er-
heischen, auf einem Felde vorgenommen, wenn
gerade eine solche oder ähnliche Dekoration
vorhanden ist. Aber auch textlich leidet diese
Bearbeitung, die, nachdem sie in Weimar ihre

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