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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 6.1903

DOI Heft:
Heft 8
DOI Artikel:
Neumann, Carl: Segantini
DOI Artikel:
Rüttenauer, Benno: Rheinische Kunst in Neapel
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https://doi.org/10.11588/diglit.45537#0083

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auch diesem kostbaren Leben ein Ziel gesetzt.
In dem engen Kämmerlein, dessen Wärme in dem
Frost der Herbsttage nicht über 4 Grad zu bringen
war, liess er sein Bett an das Fenster rücken,
um noch einmal die geliebten Berge zu sehen.
Segantinis Kunstleistung bildet eine der
stärksten Säulen, auf denen die neue Kunst
ruht. Wie hoch und ernst er seine Aufgabe
nahm, sieht man an der Bescheidenheit, mit
der er von der jungen Kunst sprach. Er fühlte,
wie sehr wir noch im Schatten der alten Kunst
stehen, die aus Zuständen und Absichten und
Vorstellungen geboren, die mit unserem Leben,
unseren Ideen und Zielen sich immer weniger
berühren, unser modernes Leben und seine
Ideale nicht zum Ausdruck zu bringen geeignet
ist. So nach zwei Seiten kämpfend, das Alte

abzuschütteln und das Neue ahnend zu ge-
stalten, stehen wir in den Anfängen einer
neuen Kunst, die berufen ist, als Herold der
Zukunft neuen Lebensformen und Anschauungen
Ausdruck zu geben.
Die wesentlichen Charaktereigenschaften, die
die Kunst Segantinis bezeichnen, kann der
Physiognomiker von seinem Gesicht ablesen.
Die üppige Fülle von Haar und Bart, die das
Antlitz umrahmt, erinnert an den Zeus von
Otrikoli; etwas olympisch Machtvolles spricht
aus diesem natürlichen Reichtum! Aus den
Augen aber blickt mehr als Olympisches, nicht
nur Wohlwollen, sondern jene tiefe Seelengüte, die
der Welt einen kostbaren und belebenden Zuwachs
an Gefühls- undAnschauungswerten geschenkt hat.
(S. auch Buchbesprechungen am Schluss des Heftes. D. Red.)

GIOVANNI SEGANTINI.


Rheinische Kunst in Neapel.

Von Benno Rüttenauer.

Wenn man, ganz berauscht von Kunst-
eindrücken aus Florenz und Rom, nach Neapel
kommt, so ist der erste Eindruck der, dass man
das Land der Kunst (das man so lange mit der
Seele suchte) nun bereits wieder verlassen habe.
Nur wer geneigt wäre, hier die Natur selber,
die ganze grosse Landschaft, als Kunst aufzu-
fassen und zu empfinden, wozu sie durchaus
herausfordert, würde hierin sofort eine Art Ersatz
finden für die hohe Stimmung, die in jenen
genannten Kulturstädten auf Schritt und Tritt
seine Seele erfüllte. Andere werden von Farben
und Licht hier eine neue Art Rausch erfahren,
der sie eine Zeitlang ganz gefangen nehmen

wird. Und dann ist hier die heitere Unbewusst-
heit des Daseins im Volke mit solcher plastischer
Sichtbarkeit vor die Augen gestellt, dass man
über diesem naiven Kunstwerk Gottes, diesem
lebendigen Bilderbuch von grossen und kleinen
Kindern gern einen Augenblick die gewollte
Kunst der Menschen entbehrt, und wenn es
die grösste ist. Man macht hier — was immer
eine Befriedigung sein wird — eine Entdeckung.
Man hatte gemeint, der Mensch sei nur insoweit
erträglich, als er das Tier in sich überwunden
hat. Hier kommt man davon zurück. Hier lernt
man das Menschentier lieben. Man findet vor
allem, dass es das heiterste aller Tiere sein kann.

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