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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 6.1903

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Heft 8
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Wygodzinski, Willy: Über künstlerische Kultur
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https://doi.org/10.11588/diglit.45537#0115

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er muss sich naturgemäss hauptsächlich an das
äusserlich Tatsächliche halten und kann die
Analyse der Bilder nur nebenbei vornehmen;
die feineren Bemerkungen, die eigentliche Stil-
analyse und Stilkritik, sind vergessen, wenn der
Zuhörer nach einigen Tagen wieder vor dem
Bilde steht.
So dürften sich denn unsere Betrachtungen
dahin zusammenfassen lassen, dass es bisher
nicht gelungen ist, den Kontakt zwischen dem
Genusssuchenden und dem Kunstwerk eng genug
herzustellen, und, wie gleich hinzugefügt sei,
bei einer gewollten Einwirkung auf viele hundert
Menschen zugleich dürfte das auch kaum ge-
lingen. Ästhetische Kultur braucht einen intimen
Kreis, der sich freilich stets wieder erneuern
kann; sie muss ferner in die Tiefe und nicht in
die Breite gehen. Wenn man einem grösseren
Publikum im Laufe eines kurzen Winters Vor-
träge über Rokoko und Gebhardt, Savonarola
und die moderne Schauspielkunst und ähnliche
weit auseinanderliegende Themata halten lässt
— (die Themata sind fingiert, entsprechen aber
etwa den tatsächlichen Verhältnissen in vielen
Städten) —, so gibt man sicher einigen sehr viel,
der Menge gibt man nur Stoff für Ball- und Tisch-
gespräche. Zumal die jungen Damen, die den
Hauptbestandteil des Publikums bilden, vermut-
lich im gleichen Winter noch anderswo Vorträge
über Spektralanalyse und die Lehren des Con-
fucius, die militärischen Ergebnisse des Buren-
krieges und Bismarcks Briefwechsel mit seiner
Frau mit gleichem Interesse und Erfolge hören.
Die Frage, wie eine Vertiefung der ästhe-
tischen Kultur zu erreichen wäre, gehört in den
Rahmen dieser Zeitschrift und verdiente, nach
allen Seiten hin diskutiert zu werden. Wenn
man von den tatsächlichen Verhältnissen aus-
geht, wird man zugeben müssen, dass es die
Vereinigungen, welche die Kunst pflegen wollen,
nicht leicht haben, anscheinend so hochgespannte
Forderungen zu befriedigen; immerhin lässt sich
auch ohne neue grosse Aufwendung von Arbeit
und Geld allerlei erreichen. Wenn man z. B.
im Laufe des Winters verschiedene moderne
Autoren veranlassen will, Proben ihrer Schöpfun-
gen selbst vorzutragen, könnte sehr wohl da-
neben und dazwischen eine literarhistorische
Vortragsreihe laufen, welche die Probleme der
Dichtkunst unserer Zeit im Zusammenhänge
unter sich und mit den Kulturströmungen erörtert
und denjenigen Dichtern, die selbst zum Worte
kommen, eine eingehendere Betrachtung widmet.
In einem anderen Winter würde man vielleicht
durch berufsmässige Vorleser, Schauspieler oder
auch in Ausführungen eine Reihe der grossen
Tragödien der Weltliteratur, von Äschylos bis
Ibsen, vorführen und auch hier in begleitenden

Vorträgen zeigen, was den Griechen zur Zeit des
Perikies, den Spaniern zur Zeit Calderons, den
Deutschen der Gegenwart tragisch erschien und
mit welchen Mitteln die Dichter das aristotelische
Problem lösten, Furcht und Mitleid zu erregen.
Das klingt stark an die Ideen der University-Exten-
sion an, und ich glaube in der Tat, dass dieser Weg
weit führt. Das Jahr 1904 wird uns Rheinländern
eine Fortsetzung der kunsthistorischen Aus-
stellung in Düsseldorf bringen, die wieder ein
Ereignis ersten Ranges zu werden verspricht.
Sollte nicht der kommende Winter gut angewandt
sein, wenn man versuchte, sich darauf vorzu-
bereiten? Das grosse Rätsel der rheinischen
Kunst, die drei Höhepunkte kennt, die romanische,
die gotische Zeit und das Rokoko, während die
Renaissance, die sonst überall die höchste Blüte
bedeutet, hier nur verschwindende Spuren hinter-
lässt, wäre die Beschäftigung damit nicht eine
würdige Aufgabe ästhetischer Kultur in den
Rheinlanden? Wie die rheinische Kultur ent-
stand und verging, wie politische und wirtschaft-
liche Einflüsse das Rheinland in eine unendliche
Reihe von Kleinstaaten zersplitterte, die bald
den Musen hold waren, bald die Künste ver-
kümmern liessen, wie die Dome und Rathäuser
zum Himmel stiegen, die Maler von Köln schon
zu Wolfram v. Eschenbachs Zeiten den Ruhm
Rheinlands in alle Ferne trugen, während ein
grosses Dichtwerk dem phantasievollen Volke
durch alle die Jahrhunderte nicht gelang, wie
vor einem Jahrhundert die Holzkohle der Eifel
und die Wasserkraft der bergischen Lande der
Steinkohle des Niederrheins erliegt und damit
die grösste Neuschichtung der Gesellschaft seit
der Zeit des grossen Karl beginnt, das sind doch
alles Kulturtatsachen, deren Zusammenhang und
Zusammenwirken nachzuweisen gleich reizvoll
und lohnend sür den Lehrenden wie für sein
Publikum sein muss. Möge doch einmal der
Versuch gemacht werden, in ein oder zwei
Wintern die Kultur des Rheinlands vorzuführen;
Vorarbeiten von Aldenhoven, Scheibler, Lamp-
recht, Gothein, Clemen, Fabricius, Loersch,
Hansen und so vielen anderen sind ja vorhanden,
desgleichen genügend Demonstrationsmaterial an
Kunstwerken und sonstigen bleibenden Zeugen
der Vergangenheit; und wenn ein Mann die
Aufgabe nicht bewältigen kann, so können es
mehrere nach einem vorherbestimmten Plan.
Mache man die Geister einmal empfänglich für
eine Kunst, eine Kultur, sei es die der Heimat
oder eine andere wie etwa die deutsche oder
italienische Renaissance, lehre man sie, wie
man Kunstwerke zu betrachten hat, statt ihnen
fertige Kunsturteile oder zusällige Sensationen zu
bieten, dann dient man der Kultur wahrhast.
W. Wygodzinski,

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