vor den Toren lag und wo sie immer etwas an-
zuordnen fand, zu Verwandten im nahen Dorfe,
woher sie selber stammte, den Weg, den sie in
der Mädchenzeit von da täglich zur Schule in
der Stadt zurückgelegt hatte, und an dem jeder
Baum für sie voll Blüten der Erinnerung hing,
dann auf die hohe Promenade am schönen Fluss-
ufer, von wo man das breite Getal überschauen
und dem munteren Kriegsspiei der Pontonniere
drunten in der Tiefe am grünen Wasser bei-
wohnen konnte.
Sie war für seine Sorgfalt und Liebe erkennt-
lich und hütete sich wohl, ihm ans Herz zu
rühren und es störrisch zu machen. Leiden-
schaftslos, aber mit beharrlichem Willen, führte
sie den stillen Kampf gegen die neue Flamme
ihres Sohnes und wusste ihn von der Berührung
mit derselben fernzuhalten. Am gefährlichen
Pfingstmontag, an dem sich viele Bürgerssöhne
im Rothaussaale zum Tanze mit den Mädchen
vom Lande einzufinden pssegten, wobei er Ge-
legenheit genug gehabt hätte, zu Bärbele zu ge-
langen, veranlasste sie einige Freunde Heinrichs,
ihn auf einen Ausssug nach Zürich mitzunehmen.
Als er am Abend, in ganz nüchterner Ver-
fassung, aber durch den Verkehr mit den
Kameraden und das Neue, was er gesehen,
fröhlich angeregt, heimkam und die Verkaufs-
stube betrat, blickte er sich voll Verwunderung
um und rief: „Ja, was ist denn das? — Es
sieht ja aus, als ob das Herrgöttlein von St. Bla-
sien hier gewesen wäre! — Eine ganz neue
Ordnung! Alles glänzt von Sauberkeit, jeder
Winkel, jede Fuge wie ausgefegt und ausge-
blasen! Stäubt denn das Mehl auf einmal nicht
mehr? — Gerade so sieht’s aus, als hättest du
einem jungen Bäcker den Brauttrossel hergerichtet
und aufgestellt.“
„Nimm an, es sei so!“ sagte sie munter,
„mir wär’s schon recht! — Ein Herrgöttlein war
freilich nicht im Spiel, aber ein herrgottliebes
Mädchen! Und dazu ein rühriges, eines das
Sinn und Schick hat! Es ist nicht nur sauber
am Gewand, sondern nett von innen und aussen,
nicht umsonst eines Feingipsers Tochter!“
„Also ist Margret dagewesen?“ sagte er, und
das Blut schoss ihm dabei in den Kopf.
„Freut es dich nicht?“ fragte sie eilig an-
knüpfend.
Heinrich sah zur Seite und bemerkte nur:
„Mutter, komm mit mir hinauf. Wir wollen
noch ein Gesätzlein lesen — willst du?“
„Freilich will ich!“ sagte sie. Und beide ver-
bargen eine Herzensfreude vor einander, die jedem
um so deutlicher wurde.
Auf diese Weise bewahrte sie ihren Sohn
vor dem Feuer, er sie vor den Dornen, und
daraus ergab sich für beide ein gemächliches
Zusammenleben, dem es nicht an Sonne fehlte,
wenn auch ein dünner Dunstschleier vor ihrem
glänzenden Schilde lag.
Dieser lichtete sich eines Tages für Heinrich
insofern, als er von da an wusste, welchen Weg
in die Zukunft er nicht zu gehen hatte. Es war
im Zwielicht, Heinrich stand mit der Mutter
allein in der Stube hinter der Gardine am
Fenster und schaute gedankenlos auf die Strasse
hinunter, als plötzlich ein lichter Schein aus
dem gegenüberliegenden Zimmer des Adjutanten
sein Auge traf. Er kam von einem grellweissen
Gegenstände her, und wie er, neugierig geworden,
näher zusah, gewahrte er, dass es Bärbeles weisse
Schürze war. Hinter ihr stand der Adjutant,
der sie umarmte und ihr Hals und Wangen mit
Küssen bedeckte, ohne dass sie sich sträubte.
Heinrich hatte zu viel gesehen, doch sagte
er, indem er mit dem Fuss auf den Boden
stampste, nur: „So, jetzt hab ich genug!“
Die Mutter fuhr aus: „Wovon hast du genug?“
„Ich mag’s nicht sagen,“ erwiderte er ge-
drückt.
„Aha, dann weiss ich schon, was es ist.
Du hast ein paar gute Augen im Kopfe, und
ich dachte, du würdest selber zusehen, würdest
über kurz oder lang selber darauf kommen, be-
vor ich dich darauf stiesse. — Siehst, es hält
für ein Mädchen in solcher Stellung schwer,
nicht flatterhaft und leichtsinnig zu werden.
Aber meine Sache ist es nicht, ein Mädchen
schlecht zu machen.“ Weiter wurde das Er-
eignis zwischen Mutter und Sohn nicht be-
sprochen. Die Selbstbeherrschung, die sie an
den Tag legte, das Vertrauen, welches sie in
385
Fritz Burgers.
Porträt des Malers Ernst Stückelberg.
zuordnen fand, zu Verwandten im nahen Dorfe,
woher sie selber stammte, den Weg, den sie in
der Mädchenzeit von da täglich zur Schule in
der Stadt zurückgelegt hatte, und an dem jeder
Baum für sie voll Blüten der Erinnerung hing,
dann auf die hohe Promenade am schönen Fluss-
ufer, von wo man das breite Getal überschauen
und dem munteren Kriegsspiei der Pontonniere
drunten in der Tiefe am grünen Wasser bei-
wohnen konnte.
Sie war für seine Sorgfalt und Liebe erkennt-
lich und hütete sich wohl, ihm ans Herz zu
rühren und es störrisch zu machen. Leiden-
schaftslos, aber mit beharrlichem Willen, führte
sie den stillen Kampf gegen die neue Flamme
ihres Sohnes und wusste ihn von der Berührung
mit derselben fernzuhalten. Am gefährlichen
Pfingstmontag, an dem sich viele Bürgerssöhne
im Rothaussaale zum Tanze mit den Mädchen
vom Lande einzufinden pssegten, wobei er Ge-
legenheit genug gehabt hätte, zu Bärbele zu ge-
langen, veranlasste sie einige Freunde Heinrichs,
ihn auf einen Ausssug nach Zürich mitzunehmen.
Als er am Abend, in ganz nüchterner Ver-
fassung, aber durch den Verkehr mit den
Kameraden und das Neue, was er gesehen,
fröhlich angeregt, heimkam und die Verkaufs-
stube betrat, blickte er sich voll Verwunderung
um und rief: „Ja, was ist denn das? — Es
sieht ja aus, als ob das Herrgöttlein von St. Bla-
sien hier gewesen wäre! — Eine ganz neue
Ordnung! Alles glänzt von Sauberkeit, jeder
Winkel, jede Fuge wie ausgefegt und ausge-
blasen! Stäubt denn das Mehl auf einmal nicht
mehr? — Gerade so sieht’s aus, als hättest du
einem jungen Bäcker den Brauttrossel hergerichtet
und aufgestellt.“
„Nimm an, es sei so!“ sagte sie munter,
„mir wär’s schon recht! — Ein Herrgöttlein war
freilich nicht im Spiel, aber ein herrgottliebes
Mädchen! Und dazu ein rühriges, eines das
Sinn und Schick hat! Es ist nicht nur sauber
am Gewand, sondern nett von innen und aussen,
nicht umsonst eines Feingipsers Tochter!“
„Also ist Margret dagewesen?“ sagte er, und
das Blut schoss ihm dabei in den Kopf.
„Freut es dich nicht?“ fragte sie eilig an-
knüpfend.
Heinrich sah zur Seite und bemerkte nur:
„Mutter, komm mit mir hinauf. Wir wollen
noch ein Gesätzlein lesen — willst du?“
„Freilich will ich!“ sagte sie. Und beide ver-
bargen eine Herzensfreude vor einander, die jedem
um so deutlicher wurde.
Auf diese Weise bewahrte sie ihren Sohn
vor dem Feuer, er sie vor den Dornen, und
daraus ergab sich für beide ein gemächliches
Zusammenleben, dem es nicht an Sonne fehlte,
wenn auch ein dünner Dunstschleier vor ihrem
glänzenden Schilde lag.
Dieser lichtete sich eines Tages für Heinrich
insofern, als er von da an wusste, welchen Weg
in die Zukunft er nicht zu gehen hatte. Es war
im Zwielicht, Heinrich stand mit der Mutter
allein in der Stube hinter der Gardine am
Fenster und schaute gedankenlos auf die Strasse
hinunter, als plötzlich ein lichter Schein aus
dem gegenüberliegenden Zimmer des Adjutanten
sein Auge traf. Er kam von einem grellweissen
Gegenstände her, und wie er, neugierig geworden,
näher zusah, gewahrte er, dass es Bärbeles weisse
Schürze war. Hinter ihr stand der Adjutant,
der sie umarmte und ihr Hals und Wangen mit
Küssen bedeckte, ohne dass sie sich sträubte.
Heinrich hatte zu viel gesehen, doch sagte
er, indem er mit dem Fuss auf den Boden
stampste, nur: „So, jetzt hab ich genug!“
Die Mutter fuhr aus: „Wovon hast du genug?“
„Ich mag’s nicht sagen,“ erwiderte er ge-
drückt.
„Aha, dann weiss ich schon, was es ist.
Du hast ein paar gute Augen im Kopfe, und
ich dachte, du würdest selber zusehen, würdest
über kurz oder lang selber darauf kommen, be-
vor ich dich darauf stiesse. — Siehst, es hält
für ein Mädchen in solcher Stellung schwer,
nicht flatterhaft und leichtsinnig zu werden.
Aber meine Sache ist es nicht, ein Mädchen
schlecht zu machen.“ Weiter wurde das Er-
eignis zwischen Mutter und Sohn nicht be-
sprochen. Die Selbstbeherrschung, die sie an
den Tag legte, das Vertrauen, welches sie in
385
Fritz Burgers.
Porträt des Malers Ernst Stückelberg.