Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 6.1903

DOI Heft:
Heft 10
DOI Artikel:
Platzhoff-Lejeune, Eduard: Die Schweiz als Kulturboden
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.45537#0212

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Schaffner von Freiburg ab ein unverfälschtes
Berndeutsch spricht, dass der in Luzern auf-
steigende Urner sich mit seinem Tessiner
Kollegen in schönstem Italienisch unterhält.
Die Sache ist also möglich bei einigem gutem
Willen, an dem es übrigens nie fehlt.
Von der Sprache abgesehen, ist die Rassen-
und Charakterdifferenz längst nicht so gross, als
der Ausländer sich einbildet. Wer mit einer
schönen Theorie im Kopf in Basel ankommt
und auf dem Wege nach Genf den germanischen
und romanischen Typus nach Haar- und Augen-
farbe, Teint oder Gesten unterscheiden will,
wird eine Enttäuschung nach der andern erleben.
Die Dinge liegen vielmehr so, dass in der
Schweiz wirklich die assimilationsfähigsten
Elemente dreier Rassen sich zusammengefunden
haben: der Westschweizer und Tessiner ist
germanischer als der Franzose und Italiener;
der Ostschweizer romanischer als der Deutsche.
Was natürlich nicht ausschliesst, dass zwischen
den drei Elementen starke Verschiedenheiten
bestehen bleiben, die man aber mehr als ab-
weichende Spielarten eines Typus, denn als
Gegensätze empfindet. Man unterschätze nicht
bei einer Betrachtung unserer schweizerischen
Verhältnisse die Gemeinsamkeit der Verfassung
und ihren tiefgreifenden Einssuss auf den Charakter
des Volkslebens. Dies fortwährende Durch-
einanderwerfen von Deutschen und Welschen
in unseren Verwaltungen, das eifrige Bemühen
auf beiden Seiten, die Sprache des andern
theoretisch durch die reichlich gebotenen Mittel
unserer Schulen, praktisch durch Aufenthalt in
dem andern Landesteil zu erlernen, verstärkt be-
greiflicherweise das Solidaritätsgefühl auf beiden
Seiten. Gewiss, je höher man in den sozialen
Schichten beobachtend aufsteigt, desto geringer
ist die Gemeinsamkeit. Berufliche Organisationen
führen noch die Pfarrer und Naturwissenschaftler,
die Historiker, Journalisten und Ärzte aus allen
Landesteilen zusammen, aber die Hochschul-
lehrer und die Schriftsteller sehen und kennen
sich selten. Je gründlicher und spezieller die
Bildung ist, desto mehr klammert sie sich auch
an einen bestimmten sprachlichen Ausdruck;
je reicher und individueller der Wortschatz ist,
dessen einer bedarf, desto schwieriger wird es,
ihn in zwei Sprachen zu beherrschen.
Wo aber die Sprache keine Rolle spielt,
wo sich der Schaffensdrang anderweitig Aus-
druck verschafft, sei es auch in den denkbar per-
sönlichsten Formen, befinden sich die Schweizer
wieder zusammen. Seit langen Jahren besitzen
wir eine schweizerische Künstlergesellschaft,
die feste und wandernde Ausstellungen überall
im Lande umher veranstaltet und die von überall
her beschickt wird. Wir besitzen seit fünf
Jahren neben der schon lange bestehenden eid-
genössischen Sängerorganisation eine Musiker-
gesellschaft, in der Welsche und Deutsche bei

jährlichen Zusammenkünften einander ihre Werke
vorspielen. Ja, man kann weiter gehen und,
ohne dass eine besondere Organisation bis jetzt
bestände, auch von gemeinsamen Zügen der
ost- und westschweizerischen Literatur reden.
Ist nicht die Lust am Theaterspiel und die
Gabe dazu ein Zeichen der Gemeinsamkeit?
Sehen die Festspiele im Osten und Westen des
Landes sich nicht ähnlich wie ein Ei dem
andern? Besteht zwischen den politischen
Romanen, die jetzt Mode zu werden scheinen,
keine Verwandtschast? Sogar gewisse unpolitische
Kunstwerke wie die Hochgebirgsromane, die
Bauerndramen und ähnliches stehen einander
nahe und sind Zeugen jener geistigen An-
näherung, die in der Schweiz wie überall die
Folge des politischen Zusammengehens ist.
Auch der Charakter des französischen und
deutschen Schweizers, so deutlich er die geistigen
Rasseneigentümlichkeiten eines jeden verrät,
weist eine Familienähnlichkeit auf. Eine ge-
wisse Einfachheit und schlichte Geradheit unter-
scheidet ihn von dem Franzosen, eine gewisse
Weichheit und Liberalität von dem Deutschen.
Der Ostschweizer hat etwas von dem natürlichen
Takt und Geschmack des Romanen, der West-
schweizer etwas von der Gewissenhaftigkeit und
Pünktlichkeit des Ostschweizers. Beide sind
sich darin einig, dass der Buchstabe tötet und
der Geist lebendig macht; dass die Gesetze um
des Menschen willen da sind und nicht der
Mensch um der Gesetze willen. Dazu kommen
auch gemeinsame Fehler, eine gewisse Schwer-
fälligkeit im Ausdruck, ein vergebliches Be-
mühen, gewisse aus den Dialekten übernommene
Eigentümlichkeiten in Wort und Schrift loszu-
werden, ein leichter Hang zum Gehenlassen
und Verschieben der Dinge. Es fehlt endlich
nicht an einzelnen hochgebildeten Schweizern,
die beiden Kulturen gleich nahestehen und beide
Sprachen gleich beherrschen. Ausser den zahl-
reichen Deutschlehrern in der Westschweiz,
den Französischlehrern in der Ostschweiz seien
nur vier bekannte Namen solcher glücklicher
Zwitterwesen genannt: die beiden Romanisten
Professor E. Bovet in Zürich und Gauchat in
Bern, die zweisprachig erzogen sind und in
beiden Sprachen schreiben; Karl Spitteier, der
nur deutsch schreibende Luzerner Dichter, der
sranzösischer Kultur sein Bestes verdankt und
deutschem Wesen ganz fern steht; Isabella
Kaiser, in Genf erzogen, in Beckenried geboren und
wohnhaft, die nicht nur Romane, sondern auch
Gedichte in beiden Sprachen veröffentlicht hat.
Wenn ich die Schweiz einen Kulturboden
nannte, so sollte damit gesagt sein, dass sie
durch ihre Lage, ihre Zusammensetzung und
den Willen ihrer Bewohner das ideale Land
der Vermittlung ist. Sind sich Deutsche und
Romanen in der Schweiz noch ein wenig näher
gerückt, — der Zug unserer verkehrsreichen

394
 
Annotationen