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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 6.1903

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Heft 10
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Vögtlin, Adolf: Über neure deutsch-schweizerische Literatur
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https://doi.org/10.11588/diglit.45537#0216

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Rosamunde im Kampf erschlagen und erscheint
als Sieger vor ihrem Vater Kemimund, um sich
von ihm mit den Waffen des Erschlagenen
gürten zu lassen; denn nur so kann er nach
langobardischem Brauch die Königswürde er-
langen. Rosamunde, die als Priesterin und
Schwester des Gefallenen seinem Besieger
Rache geschworen, wird von dessen herrlichem
Anblick überwältigt. Ihr kalter Hass verwandelt
sich in glühende Liebe. Sie nimmt dem Helden
zuliebe den christlichen Glauben an und wird
durch den Einssuss Warnefrieds, seines Bischofs,
zur eifrigen Verkünderin der neuen Lehre, die
ihrem Volke ein Ekel ist. Alboin und Rosa-
munde werden vermählt. Der Waffengefährte
des jungen Königs jedoch, Peredeo, der Rosa-
munde vom Opfertode durch die Ihrigen ge-
rettet, aber in seiner Liebe von ihr verschmäht
worden, hat keine Ruhe, bis er diese Schmach
und eine ihm von Alboin angetane Beleidigung
gerächt hat. Das rauhe Volk der Langobarden,
deren Königin sie geworden, ist allzu bereit, der
mildgesinnten Fürstin zu misstrauen, und so
gelingt es den Dämonen des Neides und der
Eifersucht mit Hilfe der schönen römischen
Tänzerin und Buhlerin Blandina leicht, die
jungen Gatten zu trennen. Alboin verstösst
Rosamunde und erhebt Blandina zur Lager-
genossin. Die Verstossene aber rächt sich, noch
ehe der geliebte König in die Arme der Un-
reinen sällt, indem sie ihn durch ihren frühem
Geliebten Helmichis meuchlings überfallen lässt;
sie versetzt mit eigener Hand dem schwerver-
wundeten Gatten den Todesstoss und durch-
bohrt sich mit demselben Dolche, die werbende
Hand des Rächers ihrer verletzten Frauenehre
stolz verschmähend.
Dieselbe plastisch-dramatische Kraft, aber
bedeutend edlere Haltung zeigt der poesievolle
Einakter „Frangipani“, der über verschiedene
deutsche Bühnen ging. Ins Märchen- und
Opernhafte hinein spielt die mit Musik ver-
sehene Sagen-Tragödie „Grabesstreiter“, in der
einige herrliche lyrische Perlen glänzen, wie
z. B. der Gesang der Kreuzfahrer. Grossen Ein-
druck gemacht und ebensoviel ästhetischen
Widerspruch hervorgerufen hat das sozialpoli-
tische, ganz realistisch gehaltene Drama „Unter-
gang“. Einen unbestritten schönen Erfolg da-
gegen trug des Dichters jüngstes Drama „Helena“
davon, das in wirkungsvoll geschlossenen Bil-
dern Napoleons Endschicksal zusammenfasst.
Das Wirken Otts wird für die Entwickelung
der dramatischen Literatur in der Schweiz von
entscheidendem Einfluss sein, vielleicht auch für
die Errichtung der längst erträumten National-
bühne. Den Nachweis hat er in schlagender
Weise geleistet, dass unsere Geschichte Momente
von unbedingter Grösse besitzt, die nach drama-
tischer Ausgestaltung verlangen. Sobald die sitt-
liche und politische Tragweite, welche einer


Ernst Würtenberger.
Porträt des Dichters Adolf Frey.
Dichtung nationalen Gehalts zukommt, erkannt
und ihr Einssufs auf das Leben unseres Volkes
genügend gewürdigt wird, werden wir die natio-
nale Bühne haben; denn an Opferwilligkeit fehlt
es den Schweizern nicht. Dann wird Arnold
Otts „Karl der Kühne und die Eidgenossen“ für
unsere Nation das bedeuten, was Schillers
Wilhelm Teil für die deutsche.
Wie sehr unser Volk sich nach heimischer
Kost sehnt, beweist der Zudrang zu den Auf-
führungen von Schauspielen mit nationalem
Stoffe. Abgesehen davon, dass der Teil immer
und immer wieder grossartige Wiedergaben (in
Altdorf, Brugg, Hochdorf) unter freiem Himmel
oder in grösseren Hallen, vom Volke selbst ge-
spielt, erlebt, haben sich in letzter Zeit eine
Anzahl Winkelried-Dramen eingestellt, unter
denen Adolf Freys (geb. 1855) „Erni Winkel-
ried“ das poetisch wertvollste Werk ist, das
voraussichtlich seine Auferstehung auf der grossen
Bühne noch erleben wird. Recht wirkungsvoll
sind desselben Dichters „Festspiele zur Bundes-
feier“, die sich sür poetische Belebung und Aus-
schmückung kleinerer patriotischer Festanlässe
vorzüglich eignen. Den grossen Stil strebt auch
Theodor Curti an, der gegenwärtige Chef-
redakteur der Frankfurter Zeitung, der früher
einen allerdings zu episch gehaltenen „Hans
Waldmann“ mit einzelnen prächtigen Szenen
geschrieben hat, in seinem politisch gewürzten
Trauerspiel „Catilina“ und dem stellenweise faust-

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