und „Seneca“ (Novelle) von Karl Albrecht
Bernoulli, welches Letzteren Werke bereits
Originalität und Meisterschast aufweisen, dann die
Skizzen und Gedichte von Paul Ilg, der auch
als Lyriker über eigene Töne verfügt.
Der Humor ssiesst etwas spärlich in der
Schweiz.
Gewisse weibliche Torheiten, Berufsschwä-
chen stellen ergötzlich dar „Sechs humoristi-
sche Novellen“ des Baslers Rudolf Kelter-
born, die indessen der Bergbachfrische, wie wir
sie aus Meinrad Lienerts Erzählungen trinken,
entbehren; ungezwungener ssiesst der Humor in
„Jä gäll, so geit’s“ von Rudolf von Tavel
(Bern) und in J. Reinharts zum Teil ernsten
„Gschichtli abem Land“.
Von den Novellen schreibenden Frauen nennen
wir nur Isabelle Kaiser, Goswina von
Berlepsch, Fanny O schwald - Ringier;
als Kinderschriftstellerin hat sich in deutschen
Landen einen Namen verschafft Johanna Spyri,
deren „Heidi“ in viel tausend Kinderherzen lebt.
* *
*
Alljährlich, wenn die Maibrunnen quellen
und die Sträucher ausschlagen, regt sich der
liebe Vogelsang. Jedes Jahr bringt neue Sänger
und damit auch neue Lyriker. Seit Gottfried
Keller schweigt, ist ihre Zahl Legion geworden
wie zur Ritterzeit, wo der Kanton Thurgau sie
zu Dutzenden zählte. Wer führet sie? würde
ein Gottfried von Strassburg fragen. Zu unserer
Freude singen die meisten so, wie ihnen der
Schnabel gewachsen ist, sobald sie überhaupt
ihre Skala und ihre Strophe gefunden und uns
etwas zu sagen haben. Es wird niemand
Spittelers Balladen oder Lienerts „Lieder des
Waldfinken“ auf Keller oder Meyer zurückführen
wollen.
Karl Spittelers „Balladen“ (1896), um mit
ihnen anzufangen, sind nun nicht, was man so
heisst, aber dafür sind es echte, grossgeschaute
poetische Bilder, wie sie in ihrer Art nur ein-
mal vorkommen in der deutschen Literatur.
Von einigen Absonderlichkeiten, willkürlichen
Wortbildungen und Konstruktionen, auch von
Härten im Rhythmus, die gewisse Absichten
verraten, sieht man angesichts der Fülle der
Gesichte in seinen Gedichten gerne ab. Wie in
den „Literarischen Gleichnissen“ (1892), so para-
bolisiert er auch hier seine Weltanschauung und
seine Lebensauffassung in Form von farben-
leuchtenden, körperhaften Vers-Erzählungen und
offenbart eine ganz seltene Kraft, abstrakteste
Gedanken und Erfahrungen sinnbildlich auszu-
prägen und mit packender, staunenerregender
Anschaulichkeit vorzuführen. An nichts Geringe-
res als an Dantes Visionen erinnert „Das Sterbe-
fest“. Die Glaubhaftigkeit eines Mythus wohnt
der Legende „Die tote Erde“ inne; eigenartige
Grösse und Tiefe der „Jurakönigin“, die über-
mächtige Vaterlandsliebe eines Dichters, der
seinem Volke das Höchste zutraut und sich der
wackern Selbständigkeit, auch wenn sie nicht
ganz disziplinarisch ist, von Herzen freut, strömt
uns aus der ssotten Romanze ,,Die jodelnden
Schildwachen“ entgegen. Von zartestem Farben-
schmelz sind die „Schmetterlinge“, die sich im
goldenen Äther reiner Schönheit wiegen.
Voll schöner Anschaulichkeit und Stimmung,
hie und da etwas gequält in den Wendungen,
sind auch die „Gedichte“ (1886) von Adolf
Frey, mit den kriegerisch-ssotten Freiharstliedern,
neckisch und von volkstümlicher Frische die
mundartliche Sammlung „Duss und underem
Rafe“ (1898); der Grösse strebt zu die Sammlung
„Der Totentanz“, die im Gegensatz zur ein-
tönigen Auffassung des Mittelalters in immer
neuen Variationen und Gestalten den Tod dar-
stellt.
Wie sehr die Macht der Phantasie den Vor-
stellungen und Gedanken den Farbenreiz und
den warmen Pulsschlag des Lebens zu verleihen
vermag, zeigen die „Gedichte“ von Arnold Ott,
der in denselben, meist Früchten aus einer
reifem Zeit, massvoller und abgeklärter erscheint
als in den Dramen. Durch all seine Trostlosig-
keit über die Nichtigkeit unseres Daseins leuchtet
der feste, auf einer im Schillerschen Sinne idealen,
mikrokosmischen Welt beruhende Glaube an die
Vervollkommnung des Menschengeschlechts hin-
durch. Hoch trägt der Dichter das Haupt und
soll der Mensch es tragen:
Ob der Blitz sich über mir entlade,
Sicher schreit’ ich die verhüllten Pfade;
Denn das Herz im Busen, unbekümmert,
Hämmert sich ein Glück, das nie zertrümmert.
Neben tiefen lyrischen Klängen birgt die Samm-
lung dramatisch zugespitzte, scharf dialogisierte,
erzählende Balladen.
W. L. Lehmann.
Bodensee.
Gemälde im Sitzungszimmer des
neuen Bundespalais in Bern.
404
Bernoulli, welches Letzteren Werke bereits
Originalität und Meisterschast aufweisen, dann die
Skizzen und Gedichte von Paul Ilg, der auch
als Lyriker über eigene Töne verfügt.
Der Humor ssiesst etwas spärlich in der
Schweiz.
Gewisse weibliche Torheiten, Berufsschwä-
chen stellen ergötzlich dar „Sechs humoristi-
sche Novellen“ des Baslers Rudolf Kelter-
born, die indessen der Bergbachfrische, wie wir
sie aus Meinrad Lienerts Erzählungen trinken,
entbehren; ungezwungener ssiesst der Humor in
„Jä gäll, so geit’s“ von Rudolf von Tavel
(Bern) und in J. Reinharts zum Teil ernsten
„Gschichtli abem Land“.
Von den Novellen schreibenden Frauen nennen
wir nur Isabelle Kaiser, Goswina von
Berlepsch, Fanny O schwald - Ringier;
als Kinderschriftstellerin hat sich in deutschen
Landen einen Namen verschafft Johanna Spyri,
deren „Heidi“ in viel tausend Kinderherzen lebt.
* *
*
Alljährlich, wenn die Maibrunnen quellen
und die Sträucher ausschlagen, regt sich der
liebe Vogelsang. Jedes Jahr bringt neue Sänger
und damit auch neue Lyriker. Seit Gottfried
Keller schweigt, ist ihre Zahl Legion geworden
wie zur Ritterzeit, wo der Kanton Thurgau sie
zu Dutzenden zählte. Wer führet sie? würde
ein Gottfried von Strassburg fragen. Zu unserer
Freude singen die meisten so, wie ihnen der
Schnabel gewachsen ist, sobald sie überhaupt
ihre Skala und ihre Strophe gefunden und uns
etwas zu sagen haben. Es wird niemand
Spittelers Balladen oder Lienerts „Lieder des
Waldfinken“ auf Keller oder Meyer zurückführen
wollen.
Karl Spittelers „Balladen“ (1896), um mit
ihnen anzufangen, sind nun nicht, was man so
heisst, aber dafür sind es echte, grossgeschaute
poetische Bilder, wie sie in ihrer Art nur ein-
mal vorkommen in der deutschen Literatur.
Von einigen Absonderlichkeiten, willkürlichen
Wortbildungen und Konstruktionen, auch von
Härten im Rhythmus, die gewisse Absichten
verraten, sieht man angesichts der Fülle der
Gesichte in seinen Gedichten gerne ab. Wie in
den „Literarischen Gleichnissen“ (1892), so para-
bolisiert er auch hier seine Weltanschauung und
seine Lebensauffassung in Form von farben-
leuchtenden, körperhaften Vers-Erzählungen und
offenbart eine ganz seltene Kraft, abstrakteste
Gedanken und Erfahrungen sinnbildlich auszu-
prägen und mit packender, staunenerregender
Anschaulichkeit vorzuführen. An nichts Geringe-
res als an Dantes Visionen erinnert „Das Sterbe-
fest“. Die Glaubhaftigkeit eines Mythus wohnt
der Legende „Die tote Erde“ inne; eigenartige
Grösse und Tiefe der „Jurakönigin“, die über-
mächtige Vaterlandsliebe eines Dichters, der
seinem Volke das Höchste zutraut und sich der
wackern Selbständigkeit, auch wenn sie nicht
ganz disziplinarisch ist, von Herzen freut, strömt
uns aus der ssotten Romanze ,,Die jodelnden
Schildwachen“ entgegen. Von zartestem Farben-
schmelz sind die „Schmetterlinge“, die sich im
goldenen Äther reiner Schönheit wiegen.
Voll schöner Anschaulichkeit und Stimmung,
hie und da etwas gequält in den Wendungen,
sind auch die „Gedichte“ (1886) von Adolf
Frey, mit den kriegerisch-ssotten Freiharstliedern,
neckisch und von volkstümlicher Frische die
mundartliche Sammlung „Duss und underem
Rafe“ (1898); der Grösse strebt zu die Sammlung
„Der Totentanz“, die im Gegensatz zur ein-
tönigen Auffassung des Mittelalters in immer
neuen Variationen und Gestalten den Tod dar-
stellt.
Wie sehr die Macht der Phantasie den Vor-
stellungen und Gedanken den Farbenreiz und
den warmen Pulsschlag des Lebens zu verleihen
vermag, zeigen die „Gedichte“ von Arnold Ott,
der in denselben, meist Früchten aus einer
reifem Zeit, massvoller und abgeklärter erscheint
als in den Dramen. Durch all seine Trostlosig-
keit über die Nichtigkeit unseres Daseins leuchtet
der feste, auf einer im Schillerschen Sinne idealen,
mikrokosmischen Welt beruhende Glaube an die
Vervollkommnung des Menschengeschlechts hin-
durch. Hoch trägt der Dichter das Haupt und
soll der Mensch es tragen:
Ob der Blitz sich über mir entlade,
Sicher schreit’ ich die verhüllten Pfade;
Denn das Herz im Busen, unbekümmert,
Hämmert sich ein Glück, das nie zertrümmert.
Neben tiefen lyrischen Klängen birgt die Samm-
lung dramatisch zugespitzte, scharf dialogisierte,
erzählende Balladen.
W. L. Lehmann.
Bodensee.
Gemälde im Sitzungszimmer des
neuen Bundespalais in Bern.
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