nur sind in allen größeren Schweizerstädten neben die
gemischten und Männer-Chöre, welche die schwierigsten
Aufgaben bewältigen, aus Fachmusikern zusammengesetzte
Orchester getreten. Dank der musikalischen Erziehung,
die der Jugend von der Volksschule an zu teil wird, und
den mit trefflichen Lehrkräften versehenen Fachmusik-
schulen, die man in fast allen Hauptstädten gegründet
hat, machen immer mehr junge Leute die Tonkunst zu
ihrem Berufsstudium und hat sich die Zahl der eingebore-
nen Fachleute in den letzten Dezennien derart vermehrt,
daß wir an der Spitze der bedeutendsten schweizerischen
Musik-Institute und -Gesellschaften schon jetzt großenteils
Einheimische finden und daß die Schweiz gegenwärtig eine
ganze Menge tüchtiger Komponisten und hervorragender
ausübender Künstler aufweist. Mir möchten den Lesern
dieser Zeitschrift die Schweizer Musiker, die sich in
neuerer und neuester Zeit durch ihre schöpferische Tätig-
keit hervorgetan haben, in scharf gezeichneten Silhouetten
vorführen und zum Schluß derjenigen kurz gedenken, die
als Gesangs-Künstler und -Künstlerinnen oder Instrumental-
Virtuosen einen höheren Rang einnehmen.
Wohl der angesehenste und vielseitigste unter den
Schweizer Musikern ist der 1841 zu Basel geborene, aber
seit bald 40 Jahren in Zürich tätige Kapellmeister Dr. Frie-
drich Hegar, der als überlegener Chor- und Orchester-
dirigent nicht weniger Vorzügliches geleistet hat denn als
ausübender Künstler, d. h. trefflicher Violinspieler und
besonders als phantasie- und geistvoller Komponist, und
der dem hochentwickelten musikalischen Leben Limmat-
Athens recht eigentlich seinen Stempel aufdrückte. Nach-
dem er das Leipziger Konservatorium durchgemacht,
übernahm Hegar schon 1864 die Kapellmeisterschaft am
Züricher Stadttheater und wurde ein Jahr später zum
Leiter des Gemischten Chores in Zürich sowie der von
der Allgemeinen Musikgesellschaft inszenierten Abonne-
mentskonzerte gewählt. Den letzteren Posten bekleidet
der feinsinnige Interpret der symphonischen Schöpfungen
von Haydn bis Richard Strauß heute noch mit un-
geschwächter Kraft und steht ebenso seit der 1875 er-
folgten Gründung der Züricher Musikschule an deren
Spitze, während er das leitende Zepter beim Gemischten
Chor erst vor wenigen Jahren niedergelegt hat. Was den
Komponisten Hegar betrifft, so liegt der Schwerpunkt
seines Schaffens in seinen Vokalarbeiten, namentlich den
zahlreichen Männerchören a capella. Mit Vorliebe hat er
in letzteren nicht sowohl rein lyrische, sondern balladen-
artige, erzählende und situationsmalerische Gedichte be-
handelt und es verstanden, dem spröden Material der
Männerstimmen so reiche Ausdrucksschattierungen, so
stimmungsvolle Farbeneffekte abzugewinnen, daß seine
hierher gehörigen Schöpfungen Epoche machten. Wir
erinnern nur an das düster-große Tongemälde „Totenvolk“
op. 17 und den kaum weniger pittoresken „Schlafwandel“
op. 18, zu denen dem Autor die Schweizer Dichter Josef
Viktor Widmann und Gottfried Keller die poetischen Stoffe
boten. Wie dieselben gleich bei ihrer Erstaufführung an-
läßlich des Eidgenössischen Sängerfestes in St. Gallen von
1886 vermöge ihrer illustrativen Kühnheit und Stimmungs-
gewalt hinreißend wirkten, so zählen sie seither zu den
Lieblingsstücken aller großen Männergesangvereine. Und
kaum weniger Eigenartiges und Bedeutendes schenkte uns
Hegar mit seiner Bearbeitung der erzählenden Gedichte
„Rudolf von Werdenberg“ und „Kaiser Karl in der
Johannisnacht“ von Dr. Rohrer sowie den in neuerer Zeit
entstandenen Kompositionen „Die Blütenfee“ und „Wal-
purga“, denen Balladen von Karl Spitteier zu Grunde liegen.
Von den übrigen Männerchorwerken des Tondichters seien
bloß das feurige „Bundeslied“ (Text von Körner), das
prächtige Hochlandsbild „In den Alpen“ (Scheffel) und
das ergreifende Schlachtgemälde „Die Trompete von
Gravelotte“ (Freiligrath) hervorgehoben. Daneben hat
Hegar eine Reihe einfacherer aber feiner und klang-
schöner Lieder für Männer- und Gemischten sowie für
Frauen-Chor geschrieben, und ebenso verdanken wir ihm
eines der besten, dramatisch-lebendigsten Oratorien der
neueren Zeit, „Manasse“, zu dem ihm Josef Viktor Wid-
Wilhelm Balmer.
Kinderporträt,
mann den menschlich-schönen, den Konflikt des Herzens
mit der herzlos starren Satzung, den Sieg der Gattenliebe
über Priestergebot und Priesterssuch schildernden Text
verfaßte. Neben warm empfundenen Liedern für eine
Singstimme mit Pianofortebegleitung stammen aus des
Komponisten Feder ein in seiner Jugendzeit entstandenes
melodiöses Geigen-Konzert op. 3 und eine farbenprächtige
schwungvolle Fest-Ouverture für großes Orchester op. 25,
welche die großartigen Festlichkeiten zur Einweihung der
neuen Tonhalle in Zürich am 19. Okt. 1895 aufs würdigste
eröffnete.
Neben Fr. Hegar ist ein anderer Züricher Musiker zu
nennen, den der Tod leider schon 1887 als kaum 42jäh-
rigen hinwegnahm, der aber ein durchaus moderner Künst-
ler und unter seinen Kollegen vielleicht das urwüchsigste
und kraftvollste schöpferische Talent war. Wir meinen
den 1845 zu Münchenbuchsee geborenen Gustav Weber,
den hervorragenden Theorielehrer an der Züricher Musik-
schule, ausgezeichneten Orgelspieler und langjährigen
Dirigenten des großen Männergesangvereins „Harmonie
Zürich“, der anfangs der 70er Jahre Karl Tausigs Lieb-
lingsschüler in Berlin war. Eine ideal angelegte, tief-
innerliche Natur von unerbittlicher Strenge gegen sich
selbst, hat Weber nur wenig veröffentlicht, da er sich nicht
entschließen konnte, etwas aus der Hand zu geben, was
ihm nicht völlig genügte. Seine bedeutendsten Werke
gehören dem Gebiet der Kammermusik an, das Klavier-
quartett op. 4, das Trio op. 5, die Sonate für Pianoforte
und Violine op. 8, alles Schöpfungen, die ebenso form-
vollendet wie von hochpoetischem Gehalt erfüllt sind.
Von den Klavierarbeiten seien nur die in den Außen-
sätzen stürmisch-leidenschaftliche, im Andante schwärme-
risch-innige Sonate op. 1, die geistreichen Stücke op. 7
und die graziösen Walzer zu vier Händen op. 3 erwähnt.
Aber auch die Männerchor-Kompositionen des Tondichters
sind Perlen der Gattung, so der vom Orchester begleitete
düster-ernste Chor aus dem Sophokleischen König Oedipus:
„Nicht geboren werden wäre das beste“, der romantisch-
schöne „Kriegsgesang im Walde“ (aus Tiecks Oktavian),
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gemischten und Männer-Chöre, welche die schwierigsten
Aufgaben bewältigen, aus Fachmusikern zusammengesetzte
Orchester getreten. Dank der musikalischen Erziehung,
die der Jugend von der Volksschule an zu teil wird, und
den mit trefflichen Lehrkräften versehenen Fachmusik-
schulen, die man in fast allen Hauptstädten gegründet
hat, machen immer mehr junge Leute die Tonkunst zu
ihrem Berufsstudium und hat sich die Zahl der eingebore-
nen Fachleute in den letzten Dezennien derart vermehrt,
daß wir an der Spitze der bedeutendsten schweizerischen
Musik-Institute und -Gesellschaften schon jetzt großenteils
Einheimische finden und daß die Schweiz gegenwärtig eine
ganze Menge tüchtiger Komponisten und hervorragender
ausübender Künstler aufweist. Mir möchten den Lesern
dieser Zeitschrift die Schweizer Musiker, die sich in
neuerer und neuester Zeit durch ihre schöpferische Tätig-
keit hervorgetan haben, in scharf gezeichneten Silhouetten
vorführen und zum Schluß derjenigen kurz gedenken, die
als Gesangs-Künstler und -Künstlerinnen oder Instrumental-
Virtuosen einen höheren Rang einnehmen.
Wohl der angesehenste und vielseitigste unter den
Schweizer Musikern ist der 1841 zu Basel geborene, aber
seit bald 40 Jahren in Zürich tätige Kapellmeister Dr. Frie-
drich Hegar, der als überlegener Chor- und Orchester-
dirigent nicht weniger Vorzügliches geleistet hat denn als
ausübender Künstler, d. h. trefflicher Violinspieler und
besonders als phantasie- und geistvoller Komponist, und
der dem hochentwickelten musikalischen Leben Limmat-
Athens recht eigentlich seinen Stempel aufdrückte. Nach-
dem er das Leipziger Konservatorium durchgemacht,
übernahm Hegar schon 1864 die Kapellmeisterschaft am
Züricher Stadttheater und wurde ein Jahr später zum
Leiter des Gemischten Chores in Zürich sowie der von
der Allgemeinen Musikgesellschaft inszenierten Abonne-
mentskonzerte gewählt. Den letzteren Posten bekleidet
der feinsinnige Interpret der symphonischen Schöpfungen
von Haydn bis Richard Strauß heute noch mit un-
geschwächter Kraft und steht ebenso seit der 1875 er-
folgten Gründung der Züricher Musikschule an deren
Spitze, während er das leitende Zepter beim Gemischten
Chor erst vor wenigen Jahren niedergelegt hat. Was den
Komponisten Hegar betrifft, so liegt der Schwerpunkt
seines Schaffens in seinen Vokalarbeiten, namentlich den
zahlreichen Männerchören a capella. Mit Vorliebe hat er
in letzteren nicht sowohl rein lyrische, sondern balladen-
artige, erzählende und situationsmalerische Gedichte be-
handelt und es verstanden, dem spröden Material der
Männerstimmen so reiche Ausdrucksschattierungen, so
stimmungsvolle Farbeneffekte abzugewinnen, daß seine
hierher gehörigen Schöpfungen Epoche machten. Wir
erinnern nur an das düster-große Tongemälde „Totenvolk“
op. 17 und den kaum weniger pittoresken „Schlafwandel“
op. 18, zu denen dem Autor die Schweizer Dichter Josef
Viktor Widmann und Gottfried Keller die poetischen Stoffe
boten. Wie dieselben gleich bei ihrer Erstaufführung an-
läßlich des Eidgenössischen Sängerfestes in St. Gallen von
1886 vermöge ihrer illustrativen Kühnheit und Stimmungs-
gewalt hinreißend wirkten, so zählen sie seither zu den
Lieblingsstücken aller großen Männergesangvereine. Und
kaum weniger Eigenartiges und Bedeutendes schenkte uns
Hegar mit seiner Bearbeitung der erzählenden Gedichte
„Rudolf von Werdenberg“ und „Kaiser Karl in der
Johannisnacht“ von Dr. Rohrer sowie den in neuerer Zeit
entstandenen Kompositionen „Die Blütenfee“ und „Wal-
purga“, denen Balladen von Karl Spitteier zu Grunde liegen.
Von den übrigen Männerchorwerken des Tondichters seien
bloß das feurige „Bundeslied“ (Text von Körner), das
prächtige Hochlandsbild „In den Alpen“ (Scheffel) und
das ergreifende Schlachtgemälde „Die Trompete von
Gravelotte“ (Freiligrath) hervorgehoben. Daneben hat
Hegar eine Reihe einfacherer aber feiner und klang-
schöner Lieder für Männer- und Gemischten sowie für
Frauen-Chor geschrieben, und ebenso verdanken wir ihm
eines der besten, dramatisch-lebendigsten Oratorien der
neueren Zeit, „Manasse“, zu dem ihm Josef Viktor Wid-
Wilhelm Balmer.
Kinderporträt,
mann den menschlich-schönen, den Konflikt des Herzens
mit der herzlos starren Satzung, den Sieg der Gattenliebe
über Priestergebot und Priesterssuch schildernden Text
verfaßte. Neben warm empfundenen Liedern für eine
Singstimme mit Pianofortebegleitung stammen aus des
Komponisten Feder ein in seiner Jugendzeit entstandenes
melodiöses Geigen-Konzert op. 3 und eine farbenprächtige
schwungvolle Fest-Ouverture für großes Orchester op. 25,
welche die großartigen Festlichkeiten zur Einweihung der
neuen Tonhalle in Zürich am 19. Okt. 1895 aufs würdigste
eröffnete.
Neben Fr. Hegar ist ein anderer Züricher Musiker zu
nennen, den der Tod leider schon 1887 als kaum 42jäh-
rigen hinwegnahm, der aber ein durchaus moderner Künst-
ler und unter seinen Kollegen vielleicht das urwüchsigste
und kraftvollste schöpferische Talent war. Wir meinen
den 1845 zu Münchenbuchsee geborenen Gustav Weber,
den hervorragenden Theorielehrer an der Züricher Musik-
schule, ausgezeichneten Orgelspieler und langjährigen
Dirigenten des großen Männergesangvereins „Harmonie
Zürich“, der anfangs der 70er Jahre Karl Tausigs Lieb-
lingsschüler in Berlin war. Eine ideal angelegte, tief-
innerliche Natur von unerbittlicher Strenge gegen sich
selbst, hat Weber nur wenig veröffentlicht, da er sich nicht
entschließen konnte, etwas aus der Hand zu geben, was
ihm nicht völlig genügte. Seine bedeutendsten Werke
gehören dem Gebiet der Kammermusik an, das Klavier-
quartett op. 4, das Trio op. 5, die Sonate für Pianoforte
und Violine op. 8, alles Schöpfungen, die ebenso form-
vollendet wie von hochpoetischem Gehalt erfüllt sind.
Von den Klavierarbeiten seien nur die in den Außen-
sätzen stürmisch-leidenschaftliche, im Andante schwärme-
risch-innige Sonate op. 1, die geistreichen Stücke op. 7
und die graziösen Walzer zu vier Händen op. 3 erwähnt.
Aber auch die Männerchor-Kompositionen des Tondichters
sind Perlen der Gattung, so der vom Orchester begleitete
düster-ernste Chor aus dem Sophokleischen König Oedipus:
„Nicht geboren werden wäre das beste“, der romantisch-
schöne „Kriegsgesang im Walde“ (aus Tiecks Oktavian),
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