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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 6.1903

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Schröder, Ludwig: Die westfälische Dialektdichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.45537#0284

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vor uns erstehen. Er bildet, gemäß der ersten
Forderung Goethes an den Künstler.
„Rugge Wiäge“ (rauhe Wege) ist ein treues
Lebensbild und schildert die Bauern im Kampfe
gegen das Neue, das, wie allerorten, so auch
namentlich an der Ruhr im Gefolge der Industrie
eingedrungen ist. Krüger bewährt schon in
diesem ersten Roman ein glückliches Talent in
Auffassung der Verhältnisse und getreuer Zeich-
nung der Charaktere. Es sind echt westfälische
Typen, harte, verschlossene Bauern, die sich
eigensinnig gegen allen „Nielat“ sträuben, mag
dabei auch ihr eigenes und ihrer Kinder Glück
zugrunde gerichtet werden. Neben vielen Szenen
voll tiefer Tragik enthält der Roman aber auch
ein reichlich Maß gesunden Humors, sogar derb-
komische Abschnitte. Verdient’s der Roman
„Rugge Wiäge“ schon, von jedem Freunde
niederdeutscher Dichtung gelesen zu werden,
so gilt das in noch viel höherem Grade von dem
dreibändigen Romane „Hempelmanns Smiede“.
(Beide bei Otto Lenz, Leipzig.) Er spielt im
Anfang des 19. Jahrhunderts im Münsterlande.
Weltgeschichtliche Ereignisse bilden den Hinter-
grund, vor dem sich ein gutes Stück Kultur-
geschichte abspielt. Die Chronik der alten Stadt
Ahlen ist getreulich benutzt worden. Unver-
sälschte Volksnatur tritt uns auf jeder Seite ent-
gegen; westfälische Männer und Frauen mit
aller ihrer Art und Unart bringt uns der Dichter
fast greifbar nahe. Der Roman hat einen Um-
fang von über siebenhundert Seiten, und es
zeugt wahrlich für die große Kunst des Dichters,
daß es ihm nicht nur gelingt, das Interesse des
Lesers bis zur letzten Zeile festzuhalten, sondern
sogar zu steigern. Alles, selbst kleine, schein-
bar unwesentliche Wendungen im Schicksal der
zahlreichen Personen, wird mit großer Sorgfalt
vorbereitet; der Dichter läßt keine Fäden fallen,
leitet vielmehr alle mit feiner Künstlerhand, bis
das herrlichste Gewebe zahlreicher ineinander-
greifender Menschenschicksale vollendet ist. Die
Kraft der Charakteristik ist noch größer ge-
worden und, was in meinen Augen das Höchste
ist, der Dichter hat ungemein an Tiefe ge-
wonnen. Man merkt’s, er ist in den Jahren,
die zwischen den beiden Büchern liegen, nicht
nur im Leben, sondern auch in der Kunst ein
gut Stück weitergekommen; er hat langsamer
gehen und deutlicher sehen gelernt. Eine der
prächtigsten Gestalten des Buches ist der Spöken-
kiker Jangiärd; Krüger hat den echt westfälischen
Typus des Spökenkikers meisterhaft gezeichnet.

Annette von Droste-Hülshoff und Levin Schücking
glaubten fest an Spökenkiker, das geht aus ihren
Büchern hervor; Friedrich Wilhelm Weber, der
Dichter von Dreizehnlinden, hatte die Gabe des
zweiten Gesichts wie viele andere Westfalen;
ich habe in meiner Jugend noch das Glück ge-
habt, einen dieser seltsamen Menschen kennen
zu lernen, deren Seelenleben sich im Geheimnis-
vollen bewegt und mit denen die getreuesten
Überlieferer aller Sagen und Märchen aus dem
Volke allmählich aussterben, weil sich nicht
nur die „Aufklärung“, sondern auch Bürger-
meister, Amtmann und Gericht mit ihren Straf-
mandaten gegen sie verschworen haben. Dem
Volk eine gruselige Vorgeschichte schaudernd
verkünden, ist grober Unfug und kostet den
armen Spökerkiker, dem sein „zweites Gesicht“
nicht einen Heller einbringt, volle fünf Mark.
„Ik holle leiwer de Mule,“ sagt er resigniert, geht
hin und singt nicht mehr. Von den andern
großartig gezeichneten Gestalten des Buches
kann ich hier nicht mehr reden, weil der mir
zur Verfügung stehende Raum nahezu erschöpft
ist. Bewundernswert ist auch in „Hempelmanns
Smiede“ die köstliche Mischung von Scherz und
Ernst; Krüger ist eben ein echter Humorist wie
Fritz Reuter und unser großer Wilhelm Raabe.
Ich betone das nachdrücklich, weil die Zahl der
echten Humoristen gar nicht so groß ist, wie
viele meinen, die das Wesen des Humors noch
nicht richtig erkannt haben. Von großer Schön-
heit sind die Landschaftschilderungen, die nie
überssüssig sind und deshalb auch niemals hem-
mend wirkend. Nach dem Gesagten ist es
eigentlich selbstverständlich, daß sich der Dichter
frei hält von Effekthascherei, die jeden fein
empfindenden Leser tief verstimmt. Ferdinand
Krüger ist eben ein Dichter von Gottes Gnaden,
dem alle Kniffe und Pfiffe des Geschäftsschrift-
stellers, des Marktpoeten verächtlich sind.
Verschiedene kleinere Werke, die bis jetzt
nur in Anthologien erschienen sind, aber bald
gesammelt erscheinen werden, überraschen durch
die Geschlossenheit der Komposition und be-
weisen, daß Krüger auch im engen Rahmen
Vortreffliches leistet.
Der Dialekt Krügers ist leicht lesbar. Die
anfänglichen Schwierigkeiten sind bald über-
wunden, der reine Genuß eines echten Kunst-
werks belohnt die kleine Mühe des Sichhinein-
lesens, und beglückt fühlt der Leser, welch eine
Fülle von Poesie in der alten Sassensprache
steckt.


Orgel-Ornament in der Kirche zu Zwillbrock.
Aufnahme Baurat Ludorff.
 
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