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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 15.1908

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Heft 1
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Rüttenauer, Benno: Herbstwanderung im Elsaß
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https://doi.org/10.11588/diglit.26458#0026

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weniger von der
lächerlichen Seite ari-
schen; ich finde es
in hohem Grade
schmerzlich, einen der
tüchtigsten deutschen
Volks stamme so in
seinem Gcsübl verirrt
zu sehen, daß er
durchseine blose Rede,
man muß es schon
so stark ausdrücken,
den Eindruck geistiger
und sittlicher Ver-
rottung macht. Es
ist ja nicht so, man
bekommt nur so das
Gefühl, und vor allem
kann man niemand
eine Schuld daraus
machen; aber die
Tatsache air sich bleibt
eine betrübende Er-


Holzbüste. (Armenverwaltung St.Marx, Straßburg.) scheinung.
weiß wobl,
nrarr so schmerzlich dabei empfindet: wir spüren da
einen beschämenden Mangel an innerlichein nationalem
Rückgrat, der eben nicht nur dem Elsässer eigen ist!
Ein heikler Punkt. Die immer noch recht geringe
Einschätzung des Deutschen im Ausland — was man
uns auch von Besserung sagt - findet von hier aus
zum Teil ihre Erklärring.
Dabei ist der elsässer Dialekt reicher als seine nächsten
Geschwister diesseits des Rheines; eine Menge alter
Wörter, die man sonst nur in altem Geschrift findet,
sind in ihm noch in der täglichen Umgangssprache lebendig.
Man gebraucht dort täglich gute alte Ausdrücke, die bei
uns längst durch französische Fremdwörter verdrängt
sind. Ist das nicht seltsam?
* *
*
Von Ammerschrveier wanderte ich, immer durch Wein-
gelände, zu Fuß nach Kaysersberg. Der nächste Ort,
Kienzheim, ist gleich sehr interessant. Dieses Winzer-
dorf von vielleicht siebenhundert Einwohnern hat statt-
liche Mauern und Türme. ES ist hierin charakteristisch
für den Elsaß. Alle seine Orre am Gebirge hin sind
in diesem Sinn Städte, und ihre mittelalterlichen Be-
festigungen sind in der Mehrzahl fast vollständig er-
halten. Erhalten bis auf die alten Hohlziegel der Türme.
Sie sind auch selten infolge von Erweiterungen durch-
brochen. Diese Orte sind sich ganz gleich geblieben, so
daß in ganz Deutschland kaum eine Gegend zu finden
sein wird, wo man von altdeutschen, ja mittelalterlichen
Zuständen in mannigfaltigster Art so treue Bilder auf
Schritt und Tritt vor Augen bekommen mag.
Man muß im Elsaß wandern, um zu erfahren,
was die Franzosen (und Andere!) diesseits des Rheines
alles zerstört haben.
Unter die „Andern" gehört z. B. auch der „Fort-
schritt". Auch er hat im Elsaß weniger zerstört als bei uns.

Und ich Holzbüste. (Armenverwaltung Sr. Marx, Straßburg.)
warum
Wenn einer ein Land durchwandert und studiert,
so wird das Ergebnis seiner Beobachtungen, wie es sich
in Urteilen äußert, nicht nur nach seiner Persönlichkeit,
sondern auch nach seinem Herkommen ein verschiedenes
sein. Denn alle Beobachtring ist im Grund Vergleichung.
Wer aus Baden oder Württemberg kommt, wird Elsaß
mit andern Augen ansehen, als wer in Hinterpommern
oder Ostpreußen daheim ist. Der Norddeutsche wird
viele Züge als spezifisch elsässisch auffassen, die im Grunde
nur süddeutsch sind.
Mit Baden liegt immer der Vergleich am nächsten.
Dieses Baden hat in allen seinen kleinen Städten die
zerrissene und unruhige Physiognomie der Neuzeit. Alles
alte Charakteristische ist hier zerstört, und alles Neue
ist einstweilen stillos bis zur Karikatur. Das Wesent-
liche des Fortschritts ist hier einstweilen Unkultur. In-
sofern bedeutet ein Negatives für Elsaß, wenigstens in
der Richtung des Ästhetischen, ein Positives. Freiburg
in Baden — die Perle des Breisgaus lautet die stereo-
type Redensart — war einst wirklich eine seltene Perle
von Kunstwerk, ob man es rein äußerlich als Bild oder
mehr innerlich als Stilausdruck und architektonische Ein-
heit ausfaßte. Es hat sich heute zu einem rechten Un-
getüm ausgewachsen, und seine schöne breite Hauptstraße,
in die noch vor fünfzehn Jahren, das Kriegerdenkmal
von 1871 ausgenommen, nicht die leiseste Dissonanz
Hineinklang, die eine Schönheit war, wie nur eine alte
italienische Piazza, eine Schönheit anderer Art und andern
Stils, aber eine Schönheit, sie wird durch die Umbauten
der letzten Zeit zu einer ganz tollen versteinerten Maske-
rade. Das gegenüberliegende Kolmar dagegen, das sich
trotz entzückender Einzelheiten als Gesamterscheinung nicht
im entferntesten mit Freiburg messen konnte, ist heute wohl
„toter" als seine alte Schwesterstadt, aber es hat dafür auch
nicht die unheimliche Wahrheit an sich erfahren, daß es
ein Lebeii gibt, das scheußlicher verunstaltet als der Tod.

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