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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 15.1908

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Heft 5
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https://doi.org/10.11588/diglit.26458#0176

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6)ühle Betrachtungen
über Kunst, Literatur und die Menschen nennt L. Gors ein
Buch, das dieser Tage im Verlag von Franz Deuticke (Leipzig
und Wien) erschien und dem ich soviel Leser wünsche, wie nur
möglich sind. Es ist ein Buch, das nun kommen mußte, die
Auflehnung des gesunden Menschenverstandes gegen die Über-
treibungen und die Heuchelei im modernen Kunstgefühl. In den
„Kleinstadtszenen" dieses Heftes ist die Episode von dem Post-
direktor Wilde in Havelburg zu lesen, der ein Mozartkonzert
durch sein Gespräch stört und dann mit den Händen in den
Hosentaschen proht: „Da tun sie alle, wie wenn sie was von
Kunst verständen; ich bin wenigstens ehrlich." Das ist die
plumpe Form der Auflehnung, die in diesem Buch von einem
scharfen und gebildeten Menschen kommt und die darum ihre
Berechtigung hat, weil tatsächlich die Meisten sich nur „durch-
lügen", wie mir einmal ein nicht unbekannter Kunstfreund gestand.
Ganz unnötigerweise, weil Schienenfabrikation, Grubenbau und
Nahrungsmittelchemie zwar keine „höheren" Dinge, aber auch
nicht ganz unwichtig sind, und jedenfalls das Bedürfnis nach
Kunst, mehr noch das Verständnis der Kunst in gar keinem Ver-
hältnis zum Aufwand stehen, der darum in Worten und Geld
gemacht wird.
Nichts ist kläglicher anzusehen, als wenn fortgesetzt ernst-
hafte Mensche», die in ihrem Beruf oder sonst etwas leisten und
gelten, sich mit Kunstbemerkungen und Urteilen blamieren. Schon
im Gottfried Keller steht die lustige Geschichte von dem Züricher
Mäeen, der in Rom seinen Bildhauer (man denkt an den
jungen Böcklin) in einer Situation findet, die von seinen idealen
Vorstellungen sonderbar ins Reale abweicht. Alles was zur ge-
bildeten Gesellschaft gehört, befindet sich, die wenigen Verständigen
und Resoluten ausgenommen, in einer Schelmenlage, und so kann
niemand zurzeit erfolgreicher sei», als einer, der nun mitten in
diesem Kunstkarneval mit einem Donnerwetter stehen bleibt und
sich ein bißchen gegen die Kunst, viel und gründlich aber gegen
das Kunstgeschwätz wehrt.
Die Schwäche und Stärke unseres Autors ist nur die, daß
er selber infiziert ist, daß er sich um Kunst und Literatur ein
halbes Leben lang gründlich bemüht hat. Die Stärke darum,
weil er somit nicht in Gefahr kommt, als Banause abgefertigt
zu werden, weil er nicht wie der Postdirektor Wilde sich nur auf
sein ehrliches Gefühl berufen kann, sondern weil er jeden seiner
Sätze mit Gründen belegt, nebenbei gesagt! auch eine vortreffliche
Sprache spricht, die tatsächlich kühl und knapp und darin sogar
schöner ist als das meiste, was heutzutage geschrieben wird.
Die Schwäche darum, weil er sich zu Untersuchungen künstlerischer
und literarischer Werke und Wirkungen Hinreißen läßt, die ihm
Blößen geben; insofern als er im Negativen vortrefflich, im
Positiven aber nicht ausreichend ist. So z. B., wenn er vom
Mangel eines Stilgefühls in der deutschen Sprache treffende
Bemerkungen macht und dann mit der Redensart endigen muß:
„Ich bin nun leider nicht imstande, dem Leser ein Rezept für
guten Stil zu geben usw." Oder wenn er die Vorzüge der
berühmten Allee von Hobbema darlegt, wie er sie sieht und da-
bei nur — etwas äußerlich nach Wölfflinschem Rezept — in der
Konstruktion des Bildes stecken bleibt. Mit der Erkenntnis allein,
daß der sogenannte Inhalt eines Kunstwerkes, Motiv, Welt-
anschauung, Gedanke und Gefühl, schließlich nur Material zur
Kunst ist, die trotz alledem nur in der Form beruht, so wertvoll sie
uns sein muß, ist schließlich auch noch nicht viel von dem Problem
erklärt, daß immer wieder Bilder, Gedichte und Novellen ent-
stehen, die Macht gewinnen und behalten über die Menschen.
Das zu erklären, reicht auch die Massensuggestion nicht aus. Cs
ist auch nicht schwer bei rmserm Zustand, wo jede Zeitung, jedes
Landstädtchen seine Kunstapostel hat, von den Kunstschreibern
verächtlich zu sprechen, es ist eine sehr verschiedene Menschen-
sorte von Goethe und Lessing bis etwa zu Alfred Kerr und von
ihm abwärts; trotzdem wird cs keiner wegdisputieren können,
daß Hofmannsthal über Gottfried Keller Bemerkungen macht,
die manches Gefühl zu diesem Dichter klären. Ich habe cs
erlebt, daß ein feiner Mensch und seltener Übersetzer das Gedicht
„Auf dem Aldebaran" von Liliencron sehr liebte und im Ge-
danklichen nicht verstand, was er ruhig zugab. Nun spricht
auch das Buch einmal hiervon, aber was es im Ganzen recht
oft vergißt, ist die Besinnung, daß unser rhythmisches Gefühl
Wege geht, wohin der Verstand schwer folgen kann, und daß

der kühle Verstand überhaupt nur eine Seite der Wclterkenntnis
vertritt, wobei es noch fraglich scheint, ob im Durchschnitt das
Gefühl nicht der gebildetere Teil im Menschen ist, im Bauern
wie im Künstler.
Gleichviel aber, ob dieser Verstand sich zu sehr auf die
Hinterbeine setzt, daß er es tut, ist wertvoll. Wir sind tatsächlich
etwas arg in die „Gefilde der Kunst" geraten, haben allzuviel
wahre und unwahre Ekstasen im Kunstgenuß erlebt und noch
mehr unnötige Predigten dazu. Das Buch mußte kommen, in
einer Zeit der Kunsterziehung, und ich wüßte keinen, dem es
nicht nötig wäre, daß er es läse. Mir persönlich hat es wohl-
getan, ich habe manchen Rippenstoß bekommen und manche
Bestätigung geheimen und ausgesprochenen Grolls. Cs ist wie
ein Arzt, der die Fenster , aufreißt und kalte Duschen verordnet.
Auch die vernünftigsten Ärzte können bekanntlich das Kräutlein
gegen den Tod nicht finden, aber sie können brillant Geschwüre
aufschneiden und Zähne ausziehen. Dieser schneidet elegant und
sachlich, geht dem „Besprechen" und Handauflegen kühl aus dem
Weg und ist für reine Luft. Er wird dem Gesunden angenehmer
sein als dem Kranken, aber für den Kranken ist er nötiger.
Im Ernst, es liegt mir sehr am Herzen, daß jeder meiner
Freunde, jeder der einen Zipfel der Künste in Händen hat, das
Buch läse. Ich wüßte keinen, dem es nicht nützen könnte, und
wenn es einen „großen Erfolg" hätte, es würde die Luft außer-
ordentlich reinigen, nicht zum Schaden der Kunst. Daß es vor-
trefflich geschrieben ist, sagte ich schon, daß der Verfasser ein
Mensch von gründlicher und feiner Bildung ist, will ich wieder-
holen und dies zum drittenmal sagen, daß wir alle sein Buch
lesen müßten. Nämlich das habe ich vergessen zu sagen, daß
es unterhaltend zu lesen und vielmals lustig ist. S.


Auch Karl Spitteler hat nun der Kinderdichterci sein
Opfer dargebracht. Freilich hat er siebzehn Jahre gebraucht, um
sich zu diesem Schritt zu entschließen. Geschrieben I8?0, um-
gearbeitet IY07 steht auf dem Opus, das nun zu Weihnachten
im Verlag von Eugen Dicderichs in Jena als ein schmales
Bändchen herausgekommen ist. Die Mädchenfeinde sind zwei
Kadettenjungen Gerold und Hansli, die das Glück haben, mit
Gesima der verkappten Regimentstochter eine Reise, ganz ungestört
durch erwachsene Begleitung, zu machen. Wie man bald merkt,
keine Geschichte für Kinder, sondern von Kindern, und darum eine
herzliche Erbauung für die Alten. In der geschliffenen Sprache
Spittelers geschrieben, liest sich diese Heldenreise köstlich; und
erst wenn man mit heiterem Vergnügen daran zurückdcnkt, er-
kennt man die große Kunst des Dichters, der im Vorübergehen
die Schicksale einer verzweigten Familie angedeutet hat, so daß
wir meinen, neben der Geschichte von den Mädchenfeinden noch
einen ganzen Roman von Erwachsenen gelesen zn haben, darin
nicht alles sich so glatt auflöst wie bei den Kindern. S.

/Ht ottfried Kellers Werke
haben dem Kanton Zürich als Erben des Dichters im
Jahre I?07 ZI 515 Franken cingebracht, die der Verlag Cotta
als Honorar abzuführen hatte. Daß ein Staat solcherweise viel-
fach das Gehalt zurück erhält, das er seinem Staatsschreiber
zahlte, dürfte ihm allerdings auch nur bei einem Dichter passieren.
Als im Jahre I8öl der damals Zweirindvierzigjährige durch
einflußreiche Freunde zum Staatsschreiber von Zürich gewählt
wurde, um ihm seine bürgerliche Existenz zu sichern, die aus seinen
Schriften unmöglich war (die „Leute von Seldwyla" brauchten
siebzehn Jahre zur zweiten Auslage), haben manche ordentlichen
Staatsbürger den Kopf geschüttelt über den „Schriftsteller" im
Staatsamt, dessen Kraut nun jährlich geschnitten werden kann.
Er hat fünfzehn Jahre aushalten müssen und in der Zeit wenig
Muße gehabt zum Dichten; wie wäre ihm geholfen gewesen und
was hätte die deutsche Sprache noch von ihm erhalten können,
wenn damals schon der bescheidene Tribut gekommen wäre. Cin-
unddreißigtausend Franken jährlich und Gottfried Keller! Genau
besehen ist das Ergebnis noch heute kläglich, wenn man cs an
unfern „zeitgenössischen Berühmtheiten" mißt. Das Volk der
Denker und Dichter zieht ihnen noch immer die Mode vor, und
Jubiläumsausgaben gibt es noch nicht bei ihm. S.

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