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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 15.1908

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[Heft 6]
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Hesse, Hermann: Lindenblüte
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Geiger, Albert: Ein Wort zu Goethes "langweiliger Prosa"
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https://doi.org/10.11588/diglit.26458#0202

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Lindenblüte.

Art. Er nahm an der großen Linde, die voller Weibs-
leute war, die Leiter weg und ging davon, und obwohl
ich selber den Frauen die Leiter wieder hingetragen
und ihr Schmähen besänftigt habe, hat der Streich
mich doch gefreut.
O ihr Wanderburschen, ihr fröhlichen Leichtfüße,
jedem von euch, und auch wenn ich ihm einen Fünfer
geschenkt habe, sehe ich wie einem König nach, mit
Hochachtung, Bewunderung und Neid. Jeder von euch,
auch der Verlottertste, hat eine unsichtbare Krone auf,
jeder von euch ist ein Glücklicher und ein Eroberer.
Auch ich bin euresgleichen gewesen und weiß, wie
Wanderschaft und Fremde schmeckt. Sie schmeckt —
trotz Mangel und Heimweh und Unsicherheit - gar süß.
Und immerzu strömt der honigsüße Dust aus den
alten Bäumen den Weg entlang durch den lauen Sommer-
abend. Kinder singen unten am Seeufer und spielen
mit Windmühlen auö rotem und gelbem Papier. Liebes-
paare spazieren langsam und lässig an den Hecken
hin, und durch den rotgoldenen Staub der Straße
surren Bienen und Hummeln in verzückten Kreisen und
mit goldenem Getönc.
Wahrlich, ich beneide die Liebespaare an den Hecken
nicht um ihre süße, dumpfe Trunkenheit, so wenig ich
die spielenden Kinder um ihre Windmühlen und um
ihre rechenschaftslose Seligkeit beneide oder die schwär-
menden Bienen um ihren taumelnden Flug. Nur die
Wanderburschen beneide ich, die haben den Dust und
die Blüte von allem.
Noch einmal jung, unwissend, ungebunden, frech
und neugierig in die Welt hinein zu lausen, hungrige
Kirschenmahlzeiten am Straßcnrande zu halten und bei
den Kreuzwegen das Rechts oder Links an den Rock-
knöpsen abzuzählcn! Noch einmal kurze, laue, duftende
Sommernächte unterwegs im Heu verschlafen, noch
einmal eine Wanderzeit in harmloser Eintracht mit den
Vögeln des Waldes, mit den Eidechsen und Käfern
leben! Das wäre wohl einen Sommer und ein paar
neue Stiesclsohlen wert. Aber eS kann nicht sein. Es
hat keinen Wert, die alten Lieder anzustimmcn, den
alten Wanderstab zu schwingen, die alten, lieben, staubigen
Straßen zu gehen und sich einzubilden, man sei nun
wieder jung, und alles sei, wie es damals war.
Nein, das ist vorbei. Nicht daß ich alt oder ein
Philister geworden wäre! Ach, ich bin vielleicht törichter
und zügelloser als je, und zwischen mir und den klugen
Leuten und ihren Geschäften ist noch immer kein Ver-
ständnis lind kein Bündnis ausgekommcn. Ich höre
auch immer noch, wie in den drängendsten JünglingS-
zeiten, die Stimme des Lebens in mir rufen und
mahnen, und ich habe jetzt weniger als jemals im
Sinn, ihr ungetreu zu werden. Aber sie ruft nicht
mehr zu Wanderschaft und Freundschaft und zu Zech-
gelagen mit Fackeln lind Gesang, sondern sie ist leise
und dringlicher geworden und führt mich immer ein-
samere, dunklere, stillere Wege, von denen ich noch
nicht weiß, ob sie in Lust oder in Leid enden sollen,
die ich aber gehen will und gehen muß.
Ich hatte mir als junger Mensch das Mannesalter
ganz anders vorgestellt. Nun ist eS auch wieder ein
Warten, Ahnen und Unruhigsein, mehr Sehnsucht als Er-

füllung. Die Lindenblüten duften, und Wanderburschen,
Sammelweiber, Kinder und Liebespaare scheinen alle
einem Gesetz zu gehorchen und wohl zu wissen, was
sie zu tun haben. Nur ich weiß nicht, was ich zu tun
habe. Ich weiß nur: weder die rechenschaftslose Selig-
keit der spielenden Kinder, noch das gleichmütige Vor-
übergehen der Wanderer, weder die dumpfe Wonne der
Liebesleute noch auch der sorgliche Sammclsinn der
Blütenpflückerinnen ist mir beschieden. Beschicken ist
mir, der Stimme des Lebens zu folgen- die in mir
ruft, auch wenn ich ihren Sinn und ihr letztes Ziel
nicht zu erraten vermag und auch wenn sie mich immer
mehr von der fröhlichen Straße hinweg in das Dunkle
und Ungewisse führen will.
in Wort zu Goethes
„langweiliger Prosa".
Es gibt eine sehr einfache Methode, um von sich
reden zu machen. Sie ist zu allen Zeiten geübt worden
und ist vielleicht heute mehr im Schwung denn jemals.
Vermutlich weil heute der Weg zum echten Erfolg
schwerer und die Begabung im allgemeinen geringer
ist. Diese Methode besteht darin, daß man eines Tags
den Mut findet — sagen wir: Mut — ganz einfach die
Dinge auf den Kopf zu stellen. Man sagt: Shakespeare
ist kein Dramatiker. Schiller hätte Bürgermeister von
Schweinfurt werden sollen (wie einst M. G. Conrad
gemeint hat). Schopenhauer ist ein Essayist. Hans
Thoma und Arnold Böcklin sind Idioten. Wagner ist
ein Charlatan. Und Goethes Prosa — um zum heutigen
Fall zu kommen — ist, wie Herr L. Gors in einer
seiner „kühlen" Betrachtungen in Ihrer geschätzten Zeit-
schrift meint: „langweilig".
Bums! da haben wirs! Und wie manche, die
Goethes Prosa wirklich und von Herzen langweilig
finden, freuen sich im stillen, daß einer den „Mut"
gehabt hat, dies auszusprechen. Denn ich begreife, daß
es in Deutschland eine Menge Menschen gibt, die
Goethe überhaupt langweilig finden. Man wird diese
nicht davon überzeugen können, daß er nicht langweilig
ist. Herr Gors, der wenigstens zugibt, daß Goethes
Verse manchmal „amüsant" sind, muß sich offenbar
wenig mit Goethes „einschläfernder" Prosa beschäftigt
haben. Wir nehmen an, daß ihn nach kurzem Lesen
ein unwiderstehliches Schlafbedürfnis überkommen und
daß er am meisten vorbeige —schlafen hat. Was ver-
steht er denn unter Goethes „Prosa"? Meint er die
Prosa, die Goethe überhaupt geschrieben hat? Das
geht nicht klar aus dem Aufsatz hervor. Denn dann
müßte man zu der Meinung kommen, daß er den
„Werther", daß er einzelne Partien im „Wilhelm
Meister", daß er die „Wahlverwandtschaften", daß er
„Wahrheit und Dichtung" überhaupt nicht gelesen hat.
Denn in dieser Prosa trifft zuatlermeist jedes Wort
und jeder Satz den Nagel auf den Kopf. In den
Briefen an Frau von Stein, zumal den früheren
(z. B. die Schweizerreise), herrscht eine Sicherheit, Klar-
heit und Plastik des Ausdrucks, die das Typische ebenso
 
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