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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 15.1908

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Heft 1
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Hesse, Hermann: Winterglanz
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Pahncke, Max [Hrsg.]: Beiträge zur Charakteristik Kinkels und seiner Bonner Freunde, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.26458#0041

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Winterglanz.

dcten wie Blitze oder leuchteten rötlich oder hatten lange,
märchenblaue Schatten an, und zwischen allem lag glas-
grün der noch nicht gefrorene See, spiegelhell in der
Nähe, und in der Ferne dunkelblau und schwarz, von
glänzenden schneeweißen Landzungen rings umfaßt, auf
welchen nichts Dunkles war als die dünnen und frieren-
den Reihen kahler, nackter Pappclstämmc. Und durch
die Luft lind durch den unendlichen Himmel schwärmte
prahlend und schwelgerisch das ungeheure Licht, von
jedem Hügel und jeder Matte und jedem Stein im
Schneeglanz zurückgcworfen und verdoppelt. Eö flimmerte
in ungebrochenen Wogen über weiße Flächen hin, glühte
am Wald und an fernen Bergen in goldenen Rändern
auf, zuckte in haarfeinen Blitzen diamanten und regen-
bogenfarbig durch die Lüfte, ruhte satt und süß auf
gelbem Schilf und in den grünen, jenseitigen Seebuchten
aus und machte sogar alle Schatten mild, bläulich,
weich und wesenlos, als müßte heute an diesem Tag
des Glanzes jeder letzte widerstrebende Flecken mit Hellig-
keit durchdrungen und gesättigt werden.
An solchen Tagen ist es unmöglich, an ein Nacht-
wcrden zu glauben, und wenn am Ende doch die
Dämmerung sinkt, ist es ein Märchen und Wunder-
werk, zu sehen, wie all der gleißend kühne Glast sich
langsam hingibt, müde wird und eine Hülle sucht, ob-
wohl nach diesen Tagen auch die Nächte, selbst wenn
kein Mond scheint, niemals völlig dunkel werden. Und
auch darum sind solche Schneetage so lang, weil der
reine Winterhimmcl und die Unbändigkeit des Lichtes
uns klein und froh und zu Kindern macht, so daß wir
noch einmal die Erde im Glanz der Schöpfung sehen
und noch einmal ohne Bewußtsein der Zeit wie Kinder
hinlcben, von jeder Stunde überrascht und keines Aus-
hörens gewärtig.
So ging es mir, als ich gegen das Ende dieses
Tages, von einer weiten Wanderung zurückkchrcnd,
beim Verlassen des schon finstern WaldcS mein Dorf
im roten Abenddufte daliegcn sah. Ich hatte schneidend
kalte, freie Höhen besucht, von denen ich Hügelzügc,
Wälder, Ackerland, See und ferne blanke Alpengipscl
betrachtete, und war durch todesstille, bläuliche Winter-
wälder gestreift, wo außer dein ängstlichen Seufzen
überladener Stämme kein Laut zu hören war. Ich hatte
im Bergwald den roten, vorsichtigen und doch dreisten
Fuchs und am schilfige» Ried die dunkeln Wildenten
belauscht, war über eine Stunde lang einem Schwarz-
specht nachgelaufen und hatte an einer tief verwehten
Hügellehne die kleine Leiche einer erfrorenen Goldammer
gesunden. An einer bevorzugten Stelle hatte ich, zwischen
roten Föhrenstämmen hindurch, den wie ein Juwel
gleißenden breiten Gipfel des Glärnisch gesehen, war
auf dem doppelten Lodenbodcn meiner Wintcrhose
manchen schrägen Hang hinabgeschlittclt und den ganzen
Tag, mit Ausnahme eines ForfthüterS, keinem Menschen
begegnet. Aber allein war ich nicht gewesen.
Und nun schritt ich ermüdet und fröhlich heimwärts
in der schon rasch zunehmenden Dämmerung, ein wenig
steif in den Beinen und ziemlich ausgehungert, aber
innig zufrieden. Wieviel Tage gibt es denn in unserem
Leben, die einen Schatz bedeuten und von denen wir
wissen, daß sie gut und rein und köstlich waren und

daß wir sie nicht vergessen werden? Heute war so ein
Tag, so ein reiner, köstlicher, unvergeßlicher, und der
ist oft hundert halb gelebte und vergessene Tage wert.
Und in der Dämmerung, auf der schneebedeckten,
blaß leuchtenden Landstraße ging etwas Kleines vor mir
her, das ich einzuholen suchte. Als es noch vielleicht
hundert Schritte entfernt war, erkannte ich cs als einen
kleinen Buben, der auf dem Kopf die viel zu große
wollene Nebelkappe seines Vaters und in der Hand
einen leeren Eimer trug. Im selben Augenblick, da ich
ihn deutlich zu sehen vermochte, begann ich auch ihn
zu hören; er sang nämlich. Eine Weile suchte ich ver-
geblich zu erraten, was er singe, denn er ging wegen
der Kälte sehr rasch, und ich hörte nur vereinzelte Töne.
Dann kam ich ihm näher und hielt mich von da an
unbemerkt hinter ihm. Er lies eilig, die linke Hand
tief in die Tasche gebohrt, und er stolperte öfters auf
der rauh und ungleich gefrorenen Straße. Aber er sang
unaufhörlich, eine Viertelstunde und eine halbe Stunde
lang und vielleicht noch länger, bis wir am Dorfe
waren und er in die erste, schon dunkle Gasse entschwand.
Immer mußte ich Nachdenken und mich besinnen,
was für ein Lied das doch wäre, das der Kleine sang.
Es klang wie ein rechtes Abendlied zu diesem Tage,
wie ein Lied aus unvergeßlich reichen, dennoch fernen
rind dunkel gewordenen Kinderzeiten. Der Knabe sang
keine Worte, er sang nur la und li und lo, aber cs war
immer dieselbe Melodie, nur wenig verändert, jedesmal
ein klein wenig anders, la li — la lo, und die Melodie
war so bekannt, so selbstverständlich, daß ich leise mit-
singen mußte. Aber das Lied kannte ich nicht. Viel-
leicht ist es doch eine vergessene Kindermelodie gewesen.
Ich glaube aber nicht. An solchen Wundertagen, wo
Gott an jedem Wegrande gegenwärtig ist, hört man viel
Töne und sieht viel Dinge, die einem oftgehört und
ostgesehcn und uralt wohlbekannt erscheinen, und man
hat sie doch nie gehört und nie gesehen.
eiträge zur Charakteristik Kinkels
und seiner Bonner Freunde.
In diesen „Beiträgen" gebe ich Unveröffentlichtes,
das der Charakteristik Kinkels und seiner Bonner Freunde
und Verhältnisse dienen soll und — so hoffe ich — ein
anschauliches Bild zeichnet. Das Material stammt aus
dem Nachlaß meines Großvaters Willibald Bcyschlag,
aus Tagebuchblättern und Briefen von ihm selber, aus
Briefen seines Bruders Franz, seiner Freunde A. Wolterö,
C. Fresenius, I. Burckhardt, A. Torstrick, E. Ackermann,
sowie aus Briefen von Gottfried und Johanna Kinkel.
Dazu kommt noch eine Stelle aus einem Briefe von
W. Ackermann, dein Vater jenes E. Ackermann. Über
alle diese Persönlichkeiten sowie über die übrigen noch
erscheinenden gibt dem Interessenten die beste Auskunft
W. Beyschlag in seinem Buche: Aus meinem Leben,
Bd. I- Halle 1896. Die äußeren Data gibt Joesten
in seiner Schrift: Gottfried Kinkel. Köln I9O4. Wenn
Joesten in diesem Büchlein zu Beyschlags Werk be-
merkt, daß es „indes viel einseitiges Material für die


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