Mathias Grünewald: Jsenheimer Altar. Nach Öffnung der inneren Flügel.
älteren deutschen Maler auf, aber von Gestalt zu Gestalt bricht die rein malerische Auslastung
stärker hervor. Wo ist ein Bild aus dieser Zeit, in welchem die Anatomie so wahr dnrchgebildet
und zugleich so konsequent malerisch behandelt ist? Das gleiche unerbittliche Streben nach über-
zeugender Wahrheit seiner Kunstgebilde, das Grünewald bei seinen Gemälden von der zeichnerischen
Modellierung zur farbigen drängte, ließ ihn auch von allem Beiwerk absehen, um sein schöpferisches
Empfinden dem Beschauer um so gewisser mirznteilen. Dieser unerschrockene WahrhcitSdrang seines
leidenschaftlichen Temperamentes drückt sich auch darin aus, was man seinen Naturalismus genannt
hat. Dieser „Naturalismus" kommt in der Kreuzigung charakteristisch zur Erscheinung in den schmerz-
lich im Todeskampfe gespreizten Fingern, den geschwollenen Füßen und den in allen Einzelheiten
sorgsam gemalten schrecklichen Geißelwunden des blutüberrieselren Körpers. Der Maler wollte fick
nicht mit der bloßen Andeutung des Leidens und Sterbens begnügen, wie es die alten Meister
raten; wer sein Bild sähe, sollte nicht nur an den heiligen Gegenstand erinnert werden, wie jene
Bilder es anstrebten, sondern sie sollten ihn leibhaftig greifbar vor sich sehen, wie eine fürchterliche
Vision, die das Herz beklemmt und schneller schlagen läßt. Der größeren Ausdrucksfähigkeir zuliebe
find die Einzelheiten „naturalistisch" gemalt, bezeichnet doch dieser Naturalismus nicht das, was man
gewöhnlich darunter versteht. Grünewald bedient sich vielmehr der natürlichen Formen mit ganz
subjektiver Willkür, wo es ihm zur Steigerung des beabsichtigten Ausdrucks dienlich erscheint?
Öffnen sich die beiden äußeren Flügel, so werden auf den Rückseiten derselben die Auferstehung
und die Verkündigung sichtbar, wäbrend als Mittelbild die Madonna mir anbetenden musizierenden
Engeln erscheint. Auf dem Mittelbild sitzen Mutter und Kind in offener Landschaft, die in
* Vergl. Bock: M. Grünewald (Straßburg IY04, Heitz s- Mündel). Eine anregende Monographie, deren Wert nur durch
die zum Teil unbewiesene und unbeweisbare Zuteilung mehrerer Werke, auch der Skulpturen des 'Isenheimer Altars an Grünewald,
herabgemindert wird.
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