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Zeitschrift für christliche Kunst — 5.1892

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Clemen, Paul: Studien zur Geschichte der französischen Plastik, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4357#0152

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227

1892. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 8.

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hat er sein Werk getauft, das einen vollstän-
digen Cicerone durch die ikonographischen
Irrgänge des Skulpturenschmuckes von Notre-
Dame enthält.4)

Der Dom zu Amiens gehört der zweiten
Metamorphose der gothischen Baukunst in Frank-
reich an. Der Uebergangsstil, der vom Tode
Sugers von St. Denis bis zum Regierungsantritt
Philipp Augusts reicht (1152 bis 1180), oder, will
man kunstgeschichtliche Perioden durch Kunst-
werke als Marksteine abgrenzen, von der Voll-
endung der Basilika von St. Denis bis zur Weihe
des Chores von Notre-Dame (1144 bis 1182),
hatte die Ausbildung der konstruktiven und tech-
nischen Fertigkeiten im Herzen Frankreichs be-
gründet. Der Stil Philippe-Auguste begründete
die Herrschaft — eine unduldsame Tyrannis —
der Gothik in ganz Frankreich, der Stil Saint-
Louis (1226 bis 1270) erweiterte diese Herr-
schaft über Mitteleuropa. Frankreich bietet die
Möglichkeit, wie in der zweiten mit dem roi
soleil beginnenden Blütheperiode seiner Kunst-
entwicklung, die einzelnen Stilwandlungen mit
dem Namen der jeweiligen Herrscher zu be-
zeichnen — denn die Könige waren hier in
der That die Stifter und Förderer —, während
dies in Deutschland nur bei den karolingischen
und sächsischen Kaisern und Königen, bei den
Hohenstaufen nur noch für den' Profanbau
möglich ist.

Die Genealogie von Amiens nennt eine ganze
Reihe von Kirchen als unter dem Einflufs des
dortigen Domes entstanden: die Chöre von
Meaux, Troyes, Tours, Beauvais, Tournai, die
Kathedralen von Clermont-Ferrand, Limoges,
Narbonne, Bordeaux — endlich Köln.

Die alte Kirche war 1218 durch einen Brand
zerstört worden. Sofort beschlofs der Erzbischof
Evrard de Fouilly einen Neubau, den nach seinem
schon 1223 erfolgten Tode sein Nachfolger Geof-
froy d'Eu eifrig förderte. Wir kennen den Namen
des grofsen Künstlers, der den Plan ersonnen:
Robert de Luzarches. Als er vom Schauplatz
abtrat, wurde Thomas de Cormont an seine
Stelle gesetzt. Unter Bischof Arnoult wurde
in den Jahren 1235 bis 1240 der Chor voll-
endet. Erst 1288 wurde der Bau durch den Sohn

*) John Ruskin »Our fathers have told us.
I. The bible of Amiens« (Orpington 1881). — Dazu
J. Russell Walker »Notes on some Continental
churches«, Proceedings of the society of antiquaries
of Scotland, n. s. VI, p. 49.

des Thomas, Renaud de Cormont, unter Bischof
Guillaume de Mäcon abgeschlossen.s) An die
Vollendung erinnerte die Inschrift in dem vor
einem halben Jahrhundert durch einen Akt un-
erhörter Barbarei zerstörten Labyrinth im Innern
der Kirche, das die Bilder der vier Bischöfe
und der drei Baumeister enthielt.0)

Die Fassade mit den drei Riesenportalen7)
wie das Portal Saint-Honore, bekannt unter dem
Namen der Porte de la vierge doree,8) gehören
beide der Zeit Bischof Arnoults von 1230 bis
1240 an und sind Werke des Thomas de Cor-
mont, der selbstverständlich, wenn er auch nicht
selbst als Steinmetz thätig war, auch auf den
Skulpturenschmuck den gröfsten Einflufs hatte.
Wie in Chartres und Reims baut sich die Fassade
über drei von steilen Krabben verzierten Wim-
pergen auf, unter denen die Portale tief in den
Leib des Westbaues einzuschneiden scheinen.
Starke bläuliche tiefe Schlagschatten, die sich
bei dem feinen Korn und dem lichten grauen
Ton des, wie aus dem Vertrag vom Jahre 1234
hervorgeht, aus den Brüchen von Picquigny
stammenden Steinmaterials nur um so kräftiger
abheben, geben dem Unterbau seine machtvolle
und imponierende Gliederung. Der Westfassade
fehlt der Formenreichthum der —weitspäteren —
Fassade von Reims, vor allem das grofse Mittel-

B) Dusevel a.a.O. I, p. 132. — Gilbert »Descr.
hist. de l'eglise cathedrale« p. 8. — Gonze »L'art
gothique« p. 197.

c) Vergl. »Revue archeologique« VII, p. 440. —
Gilbert p. 138. — Ruskin p. 16. — Eine Abbildung
des Labyrinthes zu Amiens aus dem XV. Jahrh. findet
sich im Cod. 405 der Bibl. de ville zu Amiens fol.
210°. Dafür ist das Labyrinth in Chartres (Doublet
de Boisthibault »Notice sur le labyrinthe de la
cathedrale de Chartres«, Revue archeol. VIII, p. 437.
— Chevrard im »Annuaire de l'Eur-et-Loir« (1807),
p. 228. — Janvier de Flainville »Recherches sur
Chartres«, p. 238) und zu St. Bertin (»Bulletin monu-
mental« XIII, p. 199) erhalten; aufserdem existirten
solche in Poitiers, St. Quentin, Auxerre, Reims (Louis
Paris im »Bulletin monumental« XXII, p. 540).

7) Chapuy et Jolimont »Vues pittoresques de
la cathedrale d'Amiens«, pl. 6, 7. — De Laborde
»Les monuments de la France« II, pl. 164. — Cha-
puy et Ramee »Le moyen dge monumental« I,
pl. 4; II, pl. 97. — Rigollot in den »Memoires de
la Picardie« III, p. 416, pl. 29. .— »Denkmäler der
Baukunst«, herausgegeben von den Studirenden der
Berliner Bauakademie, Lief. XI, Bl. 19. — Gonze
p. 418, 420.

8) Jourdain et Duval »Le portail Saint-Honore,
dit de la vierge dor£e, de la cathedrale d'Amiens«
(Amiens 1847).
 
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