337
1892.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 11.
338
für die ganze Schule ist der klassisch-schöne
Flufs der Gewandung. Das Untergewand fällt
fast durchweg ganz frei in grofsen Zügen zu
Boden. Alles kleinliche Gefältel, die Motive
des Anschnürens, Anklebens wie bei der älteren
Gruppe sind aufgegeben — in langen, etwas
röhrenförmigen leicht gebrochenen und stark
unterarbeiteten Hauptmotiven sinkt das Gewand
nieder. Wieder ist hier die Figur des Engels
bezeichnend. Von der Mitte des Gürtels ziehen
sich drei lange Falten in schönem Schwung nach
dem Boden hernieder, nur die eine von ihnen,
wie eine starke
Cäsur scharf
eingeschnitten,
die Trennung
der Beine an-
deutend. Die
Glieder selbst
sind mit keu-
scher Decenz
kaum angedeu-
tet, nur das
r. Knie wieder,
um das Spiel-
bein deutlich
zu markiren,
scharf durch-
modellirt.
Den Kopf-
typus,dendiese
Periode ausge-
bildet hat, zeigt
am besten und
reinsten der
weibliche Kopf
von der West-
fassade (Fig. 3). Fig'3- wdbl!ch"
Das Gesicht bildet ein längliches Oval, das mit
dem rund und fest modellirten Kinnbuckel ab-
schliefst. Unter den langen geschlitzten schmalen
Augen, über die sich von der Nasenwurzel aus
schön und regelmäfsig geschwungene Augen-
brauen hinziehen, treten die hohen Jochbeine
stark hervor. Das leichte liebliche Lächeln, kon-
ventionell und förmlich wie bei einer dame
d'honneur vom Hofe der Valois, aber noch nicht
in der unangenehmen Süfslichkeit des nächsten
Jahrhunderts erstarrt, ist durch ein leichtes Heben
der Mundwinkel hergestellt. Die feinen Linien,
die das reizvolle jugendliche Gesichtchen ab-
schliefsen, werden durch den tief unterarbeiteten
einrahmenden Lockenschmuck noch verstärkt.
Dafs dieselbe Kunst gleichzeitig auch ganz rea-
listischer Porträtköpfe fähig war, zeigt der Einzel-
kopf eines älteren glatzköpfigen Mannes, wahr-
scheinlich eines der Architekten oder Stein-
metzen (Fig. 4), mit der breiten gemeinen Nase,
dem harten energischen Mund und vor allem
den tief in den Höhlen liegenden Augen.
Der Engel steht am Ende dieser ganzen
Gruppe — er vermittelt den Uebergang zu
dem Stil des XIV. Jahrb., zu den Engelsfiguren
am Chorc). Der Prophet neben ihm ist noch ein
wenig befange-
ner, in der ein-
zelnen Durch-
führung auch
noch konven-
tioneller. Vor
allem Bart und
Haar sind noch
in die sorgfäl-
tig gedrehten
Rolllocken ge-
legt und über
der Nasenwur-
zel zeigt sich
noch die für die
frühere Gruppe
bezeichnende
tiefe Einker-
bung.
Es sind 22
überlebensgro-
fse Figuren, die
denselben Cha-
rakter zeigen.
Am Mittelpor-
Kopf vom Westportnl. . , . . . .
tal steht der
Engel der Verkündigung7) am höchsten. Im
Parvis des Mittelportals sind es die Gruppen
der Verkündigung, der Visitatio, dann der An-
betung der hl. drei Könige und der Darstellung
im Tempel, am linken nördlichen Seitenportal
die ältesten Erzbischöfe und die ersten Märtyrer
von Reims, St. Nicaise, St. Remi, St. Celinie,
St. Thierry, Jocond, Florent, Ste. Eutropie, St.
Maur, St. Apollinaire. Die aus der ganzen Tra-
dition herausfallenden Figuren der Maria und
Elisabeth vom Mittelportal sind neuerdings von
6) Gonse »L'art gothfque« p. 191.
7) Gonse p. 7. — »Gazette des Beaux-Arts« 2. pe>.
XXIII, p. 80.
1892.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 11.
338
für die ganze Schule ist der klassisch-schöne
Flufs der Gewandung. Das Untergewand fällt
fast durchweg ganz frei in grofsen Zügen zu
Boden. Alles kleinliche Gefältel, die Motive
des Anschnürens, Anklebens wie bei der älteren
Gruppe sind aufgegeben — in langen, etwas
röhrenförmigen leicht gebrochenen und stark
unterarbeiteten Hauptmotiven sinkt das Gewand
nieder. Wieder ist hier die Figur des Engels
bezeichnend. Von der Mitte des Gürtels ziehen
sich drei lange Falten in schönem Schwung nach
dem Boden hernieder, nur die eine von ihnen,
wie eine starke
Cäsur scharf
eingeschnitten,
die Trennung
der Beine an-
deutend. Die
Glieder selbst
sind mit keu-
scher Decenz
kaum angedeu-
tet, nur das
r. Knie wieder,
um das Spiel-
bein deutlich
zu markiren,
scharf durch-
modellirt.
Den Kopf-
typus,dendiese
Periode ausge-
bildet hat, zeigt
am besten und
reinsten der
weibliche Kopf
von der West-
fassade (Fig. 3). Fig'3- wdbl!ch"
Das Gesicht bildet ein längliches Oval, das mit
dem rund und fest modellirten Kinnbuckel ab-
schliefst. Unter den langen geschlitzten schmalen
Augen, über die sich von der Nasenwurzel aus
schön und regelmäfsig geschwungene Augen-
brauen hinziehen, treten die hohen Jochbeine
stark hervor. Das leichte liebliche Lächeln, kon-
ventionell und förmlich wie bei einer dame
d'honneur vom Hofe der Valois, aber noch nicht
in der unangenehmen Süfslichkeit des nächsten
Jahrhunderts erstarrt, ist durch ein leichtes Heben
der Mundwinkel hergestellt. Die feinen Linien,
die das reizvolle jugendliche Gesichtchen ab-
schliefsen, werden durch den tief unterarbeiteten
einrahmenden Lockenschmuck noch verstärkt.
Dafs dieselbe Kunst gleichzeitig auch ganz rea-
listischer Porträtköpfe fähig war, zeigt der Einzel-
kopf eines älteren glatzköpfigen Mannes, wahr-
scheinlich eines der Architekten oder Stein-
metzen (Fig. 4), mit der breiten gemeinen Nase,
dem harten energischen Mund und vor allem
den tief in den Höhlen liegenden Augen.
Der Engel steht am Ende dieser ganzen
Gruppe — er vermittelt den Uebergang zu
dem Stil des XIV. Jahrb., zu den Engelsfiguren
am Chorc). Der Prophet neben ihm ist noch ein
wenig befange-
ner, in der ein-
zelnen Durch-
führung auch
noch konven-
tioneller. Vor
allem Bart und
Haar sind noch
in die sorgfäl-
tig gedrehten
Rolllocken ge-
legt und über
der Nasenwur-
zel zeigt sich
noch die für die
frühere Gruppe
bezeichnende
tiefe Einker-
bung.
Es sind 22
überlebensgro-
fse Figuren, die
denselben Cha-
rakter zeigen.
Am Mittelpor-
Kopf vom Westportnl. . , . . . .
tal steht der
Engel der Verkündigung7) am höchsten. Im
Parvis des Mittelportals sind es die Gruppen
der Verkündigung, der Visitatio, dann der An-
betung der hl. drei Könige und der Darstellung
im Tempel, am linken nördlichen Seitenportal
die ältesten Erzbischöfe und die ersten Märtyrer
von Reims, St. Nicaise, St. Remi, St. Celinie,
St. Thierry, Jocond, Florent, Ste. Eutropie, St.
Maur, St. Apollinaire. Die aus der ganzen Tra-
dition herausfallenden Figuren der Maria und
Elisabeth vom Mittelportal sind neuerdings von
6) Gonse »L'art gothfque« p. 191.
7) Gonse p. 7. — »Gazette des Beaux-Arts« 2. pe>.
XXIII, p. 80.