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1912.
ZEITSCHRIFT KÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 7.
246
Das geschwürige, aufgedunsene Gesicht
auf der linken Seite mit dem hervorquellenden
blöden Auge, dem schwammigen Kinn, dem
welken, greisenhaft offenstehenden Mund,
einem Froschmaul nicht unähnlich, hat alle
Zeichen niedriger, ausgelebter Sinnlichkeit.
Glänzend, scharf und gierig bietet das
Auge des Gesichts auf der rechten Seite,
zusammen mit Mund und Kinn, einen Aus-
druck starker Aktivität. Hat das Kinn des
Gesichtes der Hoffart in seiner glatten Ge-
schlossenheit einen abwehrenden Charakter,
so drängt das starke, spitze Kinn
dieses Kopfes energisch nach
vorn. Nimmt man den wilden,
struppigen Haar- und Bartwuchs,
die überhängenden, verfilzten
Augenbrauen hinzu, so bietet sich
das Bild rücksichtsloser Begehr-
lichkeit. Bei dieser Bildung ist
Grünewald genau dem theolo-
gischen Ausdruck für Habsucht
in dem Sinne der Augenlust,
der concupiscentia oculorum,
gefolgt. Nicht nur dominiert
das Auge völlig in diesem Ge-
sicht, sondern es ist auch
zeichnerisch der am stärksten
betonte Teil bei allen Gesichtern
des Kopfes.
Wie Grünewald sich in diesem
Falle die übrige Körperbildung
des Teufels vorgestellt hatte, ist
nicht zu beantworten. Der
Mantelansatz spräche zum minde-
sten für einen menschlichen
Oberkörper.
Wenn bei Dante, wenigstens
nach einem Teil der Ausleger,
physischen Attribute Gottes in
Abb. 5. Scherge a d. Ver
spottung, München.
Abb. 6. Satan a. d. Sündenfall
des Hugo v. d. Goes, Wien.
die meta-
dem drei-
gesichtigen Teufel in ihrem Gegenteil erscheinen,
so wird bei Grünewald der Teufel als Prinzip
des moralisch Verwerflichen, als die Personifi-
kation des Bösen schlechthin dargestellt. Und
wenn man jenem andern Teil der Aus-
leger bei Dante folgt, der die Dreigesichtig-
keit des Teufels bei diesem als die Darstel-
lung von Lastern auffaßt, so zeigt sich, daß
bildlichung Grünewald die Gestalt des Bösen
gewann.22)
Die in diesen Köpfen dargestellten drei
bösen Grundbegierden des Menschen haben
ihre scholastischen Gegenpole in den drei evan-
gelischen Räten: der Keuschheit, der frei-
willigen Armut und dem freiwilligen Gehorsam,
als den besten Wegen zur Vollkommenheit.
Von diesen dreien erscheint der vollkommene
Gehorsam als das höchste Opfer, weil es den
ganzen Menschen verlangt.23) Wie die Selbst-
verleugnung als höchste Tugend gilt, so gilt
ihr Gegensatz, die Hoffart, als
die verderblichste Begierde, wes-
halb ihre Wiedergabe durch
Grünewald in den Mittelpunkt
der Darstellung gerückt wurde.
Auf der dauernden Übung der
drei evangelischen Räte ist das
Mönchtum aufgebaut. Darum
ist es nicht unwahrscheinlich,
daß Grünewald der Gedanke,
den Bösen durch den vollendeten
Gegensatz dieser drei mona-
stischen Ideale darzustellen, durch
den Umgang mit den Mönchen
in Isenheim gekommen ist.
Es ist nicht möglich, den ge-
nauen Zeitpunkt der Entstehung
der Zeichnung zu bestimmen.
Nur so viel ist sicher, daß sie
Grünewalds reifer Zeit angehört.
Aus der Ähnlichkeit der Gesichter
auf dein Verspottungsbild in
München und der Kreuzschlep-
pung in Karlsruhe sehen wir,
daß ihn diese Typen von seiner
Frühzeit bis zu seiner späteren
Zeit begleitet haben.
Diese Erklärung der Zeichnung fügt sich
alle dem, was wir von Grünewald wissen, so-
wohl von seinen Werken wie von seinen Lebens-
umständen, auf das beste ein. Wir finden ihn
22) Kommen die drei bösen Grundbegierden bei
der Auslegung der drei Gesichter Luzifers bei Dante
nicht zur Geltung, so werden sie aber wohl zur Er-
klflrung einer anderen Stelle der Divina Commcdia
herangezogen. Die drei Tiere, die Dante im ersten
diese Ausleger irgendwelche hervorstechende j Oesang des Inferno (Vers 31 ff.) entgegentreten
Laster annehmen, ohne daß sie bis ZU I n'mlich der Panther, der Löwe und die ™Mn.«d
' I als Allegorien der genannten drei bösen (jeluste an
dem dreifachen theologischen Urquell der | gesehen worUen. Kraus, Dame. S. 368.
Sünde, gewissermaßen den Kategorien der zB) Wetzer und Weite, Kirchenlexikon, Bd. 10.
Sünde, zurückgehen, durch deren Versinn- | Freiburg i. B. 1897. Sp. 735 ff. Evangelische Räte.
1912.
ZEITSCHRIFT KÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 7.
246
Das geschwürige, aufgedunsene Gesicht
auf der linken Seite mit dem hervorquellenden
blöden Auge, dem schwammigen Kinn, dem
welken, greisenhaft offenstehenden Mund,
einem Froschmaul nicht unähnlich, hat alle
Zeichen niedriger, ausgelebter Sinnlichkeit.
Glänzend, scharf und gierig bietet das
Auge des Gesichts auf der rechten Seite,
zusammen mit Mund und Kinn, einen Aus-
druck starker Aktivität. Hat das Kinn des
Gesichtes der Hoffart in seiner glatten Ge-
schlossenheit einen abwehrenden Charakter,
so drängt das starke, spitze Kinn
dieses Kopfes energisch nach
vorn. Nimmt man den wilden,
struppigen Haar- und Bartwuchs,
die überhängenden, verfilzten
Augenbrauen hinzu, so bietet sich
das Bild rücksichtsloser Begehr-
lichkeit. Bei dieser Bildung ist
Grünewald genau dem theolo-
gischen Ausdruck für Habsucht
in dem Sinne der Augenlust,
der concupiscentia oculorum,
gefolgt. Nicht nur dominiert
das Auge völlig in diesem Ge-
sicht, sondern es ist auch
zeichnerisch der am stärksten
betonte Teil bei allen Gesichtern
des Kopfes.
Wie Grünewald sich in diesem
Falle die übrige Körperbildung
des Teufels vorgestellt hatte, ist
nicht zu beantworten. Der
Mantelansatz spräche zum minde-
sten für einen menschlichen
Oberkörper.
Wenn bei Dante, wenigstens
nach einem Teil der Ausleger,
physischen Attribute Gottes in
Abb. 5. Scherge a d. Ver
spottung, München.
Abb. 6. Satan a. d. Sündenfall
des Hugo v. d. Goes, Wien.
die meta-
dem drei-
gesichtigen Teufel in ihrem Gegenteil erscheinen,
so wird bei Grünewald der Teufel als Prinzip
des moralisch Verwerflichen, als die Personifi-
kation des Bösen schlechthin dargestellt. Und
wenn man jenem andern Teil der Aus-
leger bei Dante folgt, der die Dreigesichtig-
keit des Teufels bei diesem als die Darstel-
lung von Lastern auffaßt, so zeigt sich, daß
bildlichung Grünewald die Gestalt des Bösen
gewann.22)
Die in diesen Köpfen dargestellten drei
bösen Grundbegierden des Menschen haben
ihre scholastischen Gegenpole in den drei evan-
gelischen Räten: der Keuschheit, der frei-
willigen Armut und dem freiwilligen Gehorsam,
als den besten Wegen zur Vollkommenheit.
Von diesen dreien erscheint der vollkommene
Gehorsam als das höchste Opfer, weil es den
ganzen Menschen verlangt.23) Wie die Selbst-
verleugnung als höchste Tugend gilt, so gilt
ihr Gegensatz, die Hoffart, als
die verderblichste Begierde, wes-
halb ihre Wiedergabe durch
Grünewald in den Mittelpunkt
der Darstellung gerückt wurde.
Auf der dauernden Übung der
drei evangelischen Räte ist das
Mönchtum aufgebaut. Darum
ist es nicht unwahrscheinlich,
daß Grünewald der Gedanke,
den Bösen durch den vollendeten
Gegensatz dieser drei mona-
stischen Ideale darzustellen, durch
den Umgang mit den Mönchen
in Isenheim gekommen ist.
Es ist nicht möglich, den ge-
nauen Zeitpunkt der Entstehung
der Zeichnung zu bestimmen.
Nur so viel ist sicher, daß sie
Grünewalds reifer Zeit angehört.
Aus der Ähnlichkeit der Gesichter
auf dein Verspottungsbild in
München und der Kreuzschlep-
pung in Karlsruhe sehen wir,
daß ihn diese Typen von seiner
Frühzeit bis zu seiner späteren
Zeit begleitet haben.
Diese Erklärung der Zeichnung fügt sich
alle dem, was wir von Grünewald wissen, so-
wohl von seinen Werken wie von seinen Lebens-
umständen, auf das beste ein. Wir finden ihn
22) Kommen die drei bösen Grundbegierden bei
der Auslegung der drei Gesichter Luzifers bei Dante
nicht zur Geltung, so werden sie aber wohl zur Er-
klflrung einer anderen Stelle der Divina Commcdia
herangezogen. Die drei Tiere, die Dante im ersten
diese Ausleger irgendwelche hervorstechende j Oesang des Inferno (Vers 31 ff.) entgegentreten
Laster annehmen, ohne daß sie bis ZU I n'mlich der Panther, der Löwe und die ™Mn.«d
' I als Allegorien der genannten drei bösen (jeluste an
dem dreifachen theologischen Urquell der | gesehen worUen. Kraus, Dame. S. 368.
Sünde, gewissermaßen den Kategorien der zB) Wetzer und Weite, Kirchenlexikon, Bd. 10.
Sünde, zurückgehen, durch deren Versinn- | Freiburg i. B. 1897. Sp. 735 ff. Evangelische Räte.