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Zeitschrift für christliche Kunst — 25.1912

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Witte, Fritz: Zur Frage nach der Bedeutung der Wallfahrtsbilder für die Stilentwicklung
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https://doi.org/10.11588/diglit.4342#0227

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107

1912. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 12.

■1(18

faßt den Zipfel des Kopftuches, um ihre Tränen
zu trocknen. Das Kopftuch der Madonna ist
unter dem Halse her quer von rechts nach
links über die Brust und weiterhin über den
Kopf gelegt, von dein es rechts im Zipfel
niederhängt. Über ('cm nicht gegürteten Unter-
gewand, das sich am Boden in schematischen
Falten breit auseinanderlegt, liegt ein weitci
bis zur Mitte des Schienbeines reichender
Mantel, der vom Schöße in Vorhangfalten
niederfällt, die wiederum zu beiden Seiten
von kanülenartigen Steilfalten begrenzt werden.
Als typische Merkmale fallen ins Auge: der
schmale, knochig straffe Leichnam mit zu
breiten Fußfesseln und zu kurzen Füßen, mit
derbem Schmerzensausdruck, aus zwei Strängen
geflochtener Dornenkrone, fellartig gestriegeltem
Leudentuche und breitem aus der Seite strö-
mendem Blutstrahl. Die Madonna hat ein
vollrundes Köpfchen mit vollen Backen und
(\en auffallend eng gestellten Organen Mund,
Nase, Augen und Kinn; ihre Hände sind
zart und wenig bewegt, mit sehr kurzem,
schwachem Daumen. Die Höhe der Figur
beträgt ungefähr 30««, das Material ist Ala-
baster. Ob die Gruppe je polychromiert ge-
wesen, entzieht sich meiner Kenntnis. Über
die Herkunft sei später gesprochen.

Wenn man von den für Massenverkauf in
Formen hergestellten Tonfiguren desXV.Jahrh.
absieht, wird man unter den plastischen Bild-
werken vergebens nach einem Stück suchen,
das in regelrechter Bildhauer- oder Schnitzer-
arbeit in vielen Exemplaren hergestellt wurde.10)
Einen regelrechten Massenbetrieb finden wir
außer in den flämischen Schnitzaltären nur
noch bei den englischen Alabasterarbeiten
und Brüsseler Figuren. Zu der Oud-Zeve-
naarer Pictä bin ich in der Lage, nicht weniger
als vier Parallelen, wenn wir nicht sagen
wollen Kopien zu nennen, von denen drei
in Abbildung 5, 6, 7 wiedergegeben sind.
Die Verwandtschaft mit der in Oud-Zevenaar
und untereinander ist in die Augen springend,
kleine Verschiebungen im Faltenwurf, Lage
der Arme und Hände. Vereinfachungen der

1}) Als Ausnahmen nenne ich die vielfach in Ala-
baster und Elfenbein wiederholte Madonna mit dem
Kind, von der sich ein Exemplar im Museo civico zu
Bologna, mehrere in der Sammlung Schmitten und
anderswo verstreut finden Sie scheinen auf ein sizilia-
nisches Wallfahrtsbild zurückzuführen. Vgl. d. Verf.:
»Skulpturen«. 1912. TaF. 85. Nr. 2, 3, 7, 8.

Gruppe überhaupt verschwinden ganz unter
der Menge der Kongruenzerscheinungen. Das
Material ist bei allen Alabaster, die Abmessun-
gen sind überall sehr geringe: bei Nr. 5 (in
niederrheinischem Privatbesitz) beträgt die Höhe
der Figur ohne den späteren Holzsockel 19 cm,

; bei Nr. (i (im Privatbesitz) etwa 18 cm. Die-
selben stilistischen Charakteristika treten auf.
Zunächst ist die Modellierung des Leichnams
identisch; hier wie dort die breiten Fesseln
an den starren, knochigen Beinen, die win-
zigen Füße, der derb realistische Kopf mit
der aus zwei Strängen geflochtenen Dornen-
krone, das quellende Blut der Seitenwunde.

: Die Pieta aus niederrheinischem Privatbesitz
weist zudem eine fast sklavisch genaue Über-
einstimmung in der Draperie des Madonnen-
mantels unter dem Schöße auf, sie ist hier
nur weniger aufgelöst; das Untergewand ver-
zichtet auf die vielen Stoßfalten am Boden,
das Kopftuch mit dem auch an der Zeve-
naarer Gruppe wiederkehrenden Zackensaum
ist in den Nacken zurückgeschlagen. Auch
die konisch sich verjüngende Bank findet sich
bei allen vier Gegenstücken wieder. Besonders
instruktiv und für die Identität der Werkstatt
überzeugend ist der Vergleich der rein ana-
tomischen Aulfassung, vornehmlich des Ma-
donnenköpfchens. Der Typus des Gesichtes
mit der kleinen Nase, den nach oben in die
Stirn weich verlaufenden kugeligen Augäpfeln,
dem schmalen Mündchen und den schwellen-
den Wangen ist ganz unverändert. Selbst das
enggezogene fellartigc Lendentuch Christi kehrt
wieder und wirkt fast wie ein Signet des
Meisters. Die unter Nr. 5 abgebildete Gruppe
hat noch die alte Polychromie, die, von Einzel-
stellen (Wangen) abgesehen, nur mit Gold
operiert, das mit öligem Polvment oder Binde-
mittel aufgetragen ist. Das anziehende Motiv
der Oud-Zevenaarer Pietä, daß Maria den
Zipfel ihres Kopfschleiers faßt, um die feuchten
Augen zu trocknen, kehrt auf den Gegen-
stücken nicht wieder; dagegen weisen diese
im pyramidalen Aufbau der Gruppe manche
Vorzüge auf, da bei ihnen der Oberkörper
Christi nicht so ungebührlich weit über den
Schoß der Mutter hinausragt und die Sil-
houette stört. Das holländische Gnadenbild
zeichnet sich aber durch eine auf künstlerischer
Berechnung beruhende Erscheinung aus: der
fUchig wirkende Leichnam Christi mit seine.
starken Lichtwirkung ist mit Bewußtsein in


 
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