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Baumeister: das Architektur-Magazin — 3.1905

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Heft 1 (1904, Oktober)
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Muthesius, Hermann: Das englische Haus der Gegenwart
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https://doi.org/10.11588/diglit.49991#0014

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DER BAUMEISTER ♦ 1904, OKTOBER.


Platz in Hall in Tirol.

Arch.^R. S. Lorimer. Lord Pearson’s Cottage.
.VerkleinerteTAbbildung aus.jSparrow,^British House.


Das englische Haus der Gegenwart.*)
Von Hermann Muthesius.
England ist im letzten Jahrhundert in vielen Fragen der
Kultur, ganz besonders aber in der technischen, der volks-
wirtschaftlichen und der Wohlstandsentwicklung allen Völkern
der Welt vorausgeeilt. Und so gelangte es sehr bald auf
einen Höhepunkt, wo auch künstlerisch jenes Aufsichselbst-
besinnen möglich wurde, das erst eintreten kann, wenn der
Magen des Volkes nicht mehr vor Hunger knurrt. England
besann sich auf sich selbst schon zu einer Zeit, als die andern
kontinentalen Völker noch im alten Geleise verwässerter italie-
nischer und französischer Traditionen dahintrotteten, als gebe
es an der Richtigkeit dieses Weges keinen Zweifel. Gewisse
Gesichtspunkte, die bei uns allerneueste Errungenschaften
sind, verkündete in England Ruskin schon in den vierziger
Jahren. Und es begann sich schon damals eine kleine Ge-
meinde zu bilden, die auf künstlerischem Gebiete die alten
germanischen Tugenden der schlichten Aufrichtigkeit, die
*) The British Home of To-day. A Book of Modern Domestic
Architecture and the Applied Arts, edited by W. Shaw Sparrow.
London, Hodder & Stoughton.

Material- und Werkmannsfreude, den Individualisierungstrieb
gegen die italienische Prätension und den schönen Schein
wieder auf den Schild zu heben versuchten. Ruskin predigte
mit Feuereifer dafür. Und um 1860 war der Boden im
Herzen des Volkes so weit vorbereitet, dass einzelne ans Werk
gehen konnten, diese Gesinnungen durch praktische Ver-
suche in die Wirklichkeit umzusetzen. Es begann das, was
man später die neue Kunstbewegung nannte, der Anfang
unserer gesamten neueren künstlerischen Kultur.
Diese Umstände muss man sich klar machen, um zu be-
greifen, dass England heute eine fertige, vollausgereifte
Kultur im modernen Hausbau hat. Welch beneidenswertes
Land! Man blicke auf unsere Villenvororte, wo einem nach
fünf Minuten die Laune verdorben ist und wo man alle
Hoffnung verliert! Aber gerade das Beispiel Englands kann
sie wieder aufrichten. Das was wir dort sehen, ist nicht von
heute auf morgen entstanden, es ist das Produkt einer vier-
zigjährigen Entwicklung. Heute kommt bereits die dritte
Generation herauf, die mit Hand ans Werk legt.
Wir können dort also bereits von einer vollentwickelten
modernen Tradition reden. England beweist uns gerade auf
dem Gebiete seines heutigen Hausbaus, dass eine solche
auch heute noch zu bilden möglich ist. Die heut gebauten
Häuser mögen so verschieden sein, wie sie wollen, sie
atmen doch denselben Geist, es spricht sich dasselbe Wollen
in ihnen aus, dieselbe künstlerische Überzeugung. Sie sind
echte Kinder von Land und Volk, sie erscheinen echt englisch.
Und nicht nur sehen sie einheitlich aus, sondern sie zeigen
auch eine Durchschnittshöhe des Geschmacks und des
Könnens, wie sie nur die Blütezeiten einer geschlossenen
nationalen Kunst aufzuweisen pflegen. Es ist heute in Eng-
land auffallend, dass der kleinste Architekt im abgeschlossen-
sten Landwinkel ein anständiges Haus bauen kann, so wie
wir es in Deutschland nur von ein paar hervorragenden
 
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