DB BAUMEISTER
ARCHITEKTONISCHE LEITUNG: ooo
HER'vlANN JANSEN UND
WILLIAM MÜLLER.
SCHRIFILEITUNG: 00000:0300000
F. v. BIEDERMANN,
ALLE ZUSENDUNGEN AN DIE SCHRIFTLEITUNG
BERLIN W., KÖNIGGRÄTZERSTR. 123B.
HI. Jahrgang
MONATSHEFTE
FÜR ARCHITEKTUR
UND BAUPRAXIS.
1905, Januar
VERLAG UND EXPEDITION: 000000
GEORG D. W. CALLWEY
MÜNCHEN, FINKENSTR. 2
BERLIN W„ KOENIGIN AUGUSTA-
STRASSE 36.
Heft 4
INHALT: Hauptblatt: Französische Bauphantasie, v. Wolfgang Kirchbach (9 Abb.) — Tirol, von Emil Högg [Schluss] (4 Abb.). — Hauptfeuer-
wache in München, Arch. C. Hocheder und R. Rehlen (4 Abb.). — Normannenhaus in Tübingen, Arch. R. Dollinger (1 Abb.) — Bei-
lage: Die architektonische und die landschaftliche Gestaltungsweise des Gartens. — Berichte über Erfindungen auf dem Gebiete des
Bauwesens. — Vom Büchermarkt: Baukunde des Architekten.— Bruck Dr. Robert, Arnold Rosenbach und seine Bauten. — Hennings J.,
Der moderne Zimmermann. — Hercher Ludwig, Grosstadterweiterungen. — Jahrbuch der bildenden Kunst 1904. — Chronik. — Ist
die Benutzung einer patentierten Erfindung zum eigenen Gebrauch gestattet? — Tafeln No. 25—32. Supplementtafeln 7 u. 8
Französische Bauphantasie.
Von Wolfgang Kirchbach.
Es besteht eine beträchtliche Wahrscheinlichkeit, dass die
Hauptpfleger des gotischen Baustils, der bekanntlich in Frank-
reich seine erste Nutzanwendung zu St. Denis an der Notre-
Dame-Kirche von Paris fand, eine geschlossene nationale
hatte, nach Paris gehen, um dort den Stil seiner Stammes-
genossen unter den „Franken-Maurern“ zu studieren. Ein
gotisches Wort ist dieses Wort „Frank“, wie das gleichbedeu-
tende „frei“ (freis). Der grosse Meister des gotischen Stils,
Baugenossenschaft waren, die
sich die „Fränkischen Mau-
rer“ nannten, die „Franken-
maurer“. Dieses Wort heisst
auf französisch die „Franc-
ma9ons“, und wer heutzu-
tage die Maijonnerien, die
Maurergenossenschaften und
Maurergeschäfte von Paris
kennt, zweifelt nicht, was
man auch sonst weiss, dass
die Baugenossenschaften des
gotischen Stils sich selbst-
verständlich auch „MaQon-
nerien“ nannten. Mit „Frei-
maurer“ wurde in späterer
Zeit und in symbolischer
Auffassung für eine grosse
unter dem Druck der Je-
suitengesellschaften entstan-
dene Protestorganisation das
übersetzt, was ursprünglich
eine fränkische Gemeinschaft
bezeichnet hatte. Das Wort
„franc“ heisst auf französisch
vor allem Franke, wie es
frank und frei bedeutet. Es
ist ein rein germanisches
Wort. Der gotische Stil ist
der Frankenstil, der beson-
Hötel de ville in Paris.
der selbst ein fränkischer
Maurer war, fand in Paris
seine gotisch benannten
Stammesgenossen vor, wie
sie heute noch jedermann
in Paris an ihren blonden
Locken, ihren blauen Augen
erkennt. Denn sie leben
noch alle.
Von französischer Bau-
phantasie zu sprechen, be-
deutet schon seit dieser Zeit
eine Art von Negation. Der
Abt Suger von St. Denis,
der dort die ersten gotischen
Konstruktionen schuf, war
ganz gewiss ein Franke. Su-
ger ist der germanische Na-
me Suitger, der z. B. am
Dom zu Münster verewigt
ist. Und es spricht die
grösste Wahrscheinlichkeit
dafür, dass dieser Stil von
den „Freimaurern“, d. h. in
Wirklichkeit den „Franken-
maurern“, den „Franc-
MaQons“ als einer Bauge-
nossenschaft zunächst ge-
hütet und dann gerade auf
Grund der damals noch be-
dere Stil der fränkischen Welt, die in Europa seit Chlodwig
und Karl dem Grossen ganz bestimmte Gebiete inne hat.
Wir wissen anderweit genau, dass der gotische Baustil von
den Zeitgenossen der Erbauer von Notre-Dame in den
Chroniken als „fränkischer Stil“ bezeichnet wird, als opus
francigenum. Damals hiess das im Mönchslatein nicht
„französisch“, denn Franzosen im heutigen Sinne gab es
im 12. und 13. Jahrhundert noch nicht, sondern nur „Fran-
ken“, als den Zusiedlern, die seit Karl dem Grossen von
Paris bis nach Aachen sassen. Ein Werk der Franken war
also dieser Stil, und ebendeshalb nannte man ihn gotisch, weil
das Bewusstsein lebendig geblieben war, dass diese Franken
vor gar nicht langer Zeit noch das gotische Althochdeutsch
gesprochen hatten auch in Frankreich, wie sie zur Zeit des
Emporkommens der Baugotik, neben der sich bildenden neuen
französischen Sprache auch noch mittelhochdeutsch verstanden.
So konnte unser deutscher Meister Erwin von Steinbach, der
ein Franke war, wie schon sein Name „Erwin“ zeigt und aus
Steinbach in Baden stammte, das eine fränkische Bevölkerung
stehenden germanisch-fränkischen Verwandtschaft so rasch
und schnell international verbreitet wurde. Denn wie ich in
verschiedenen Blättern gezeigt habe, dass gewisse Bauernhaus-
formen der Verbreitung der europäischen Stämme entsprechen,
so sind die Träger der internationalen Baustile doch nationale
Männer, die auf Grund ihres National-Empfindens gegebene
Neuerungen umwandelten oder den klimatischen Verhältnissen
anpassten. Wenn wir erwägen, dass in Paris Franken sassen,
dass ihre ripuarischen Stammesgenossen von Antwerpen bis
Köln hausten am Rhein entlang, wo der Franke Erwin v. Stein-
bach zu Strassburg und weiter wirkte, dass später die Ost-
franken vom Main und von Nürnberg mächtig sich entwickelten,
um Donauabwärts bis nach Wien das „opus francigenum“,
das „Frankenwerk“ des Stephansdoms zu tragen, so erklären
unsere Ausführungen manches, was man über den gotischen
Stil noch rät. Ich habe gestanden in der Domhalle von Notre-
Dame zu Paris, ich habe aber auch bewundernd den fünf-
schiffigen Bau des Domes von Kaschau im äussersten Osten
der Gotik betrachtet; ich habe in der Westminster-Abtei zu
ARCHITEKTONISCHE LEITUNG: ooo
HER'vlANN JANSEN UND
WILLIAM MÜLLER.
SCHRIFILEITUNG: 00000:0300000
F. v. BIEDERMANN,
ALLE ZUSENDUNGEN AN DIE SCHRIFTLEITUNG
BERLIN W., KÖNIGGRÄTZERSTR. 123B.
HI. Jahrgang
MONATSHEFTE
FÜR ARCHITEKTUR
UND BAUPRAXIS.
1905, Januar
VERLAG UND EXPEDITION: 000000
GEORG D. W. CALLWEY
MÜNCHEN, FINKENSTR. 2
BERLIN W„ KOENIGIN AUGUSTA-
STRASSE 36.
Heft 4
INHALT: Hauptblatt: Französische Bauphantasie, v. Wolfgang Kirchbach (9 Abb.) — Tirol, von Emil Högg [Schluss] (4 Abb.). — Hauptfeuer-
wache in München, Arch. C. Hocheder und R. Rehlen (4 Abb.). — Normannenhaus in Tübingen, Arch. R. Dollinger (1 Abb.) — Bei-
lage: Die architektonische und die landschaftliche Gestaltungsweise des Gartens. — Berichte über Erfindungen auf dem Gebiete des
Bauwesens. — Vom Büchermarkt: Baukunde des Architekten.— Bruck Dr. Robert, Arnold Rosenbach und seine Bauten. — Hennings J.,
Der moderne Zimmermann. — Hercher Ludwig, Grosstadterweiterungen. — Jahrbuch der bildenden Kunst 1904. — Chronik. — Ist
die Benutzung einer patentierten Erfindung zum eigenen Gebrauch gestattet? — Tafeln No. 25—32. Supplementtafeln 7 u. 8
Französische Bauphantasie.
Von Wolfgang Kirchbach.
Es besteht eine beträchtliche Wahrscheinlichkeit, dass die
Hauptpfleger des gotischen Baustils, der bekanntlich in Frank-
reich seine erste Nutzanwendung zu St. Denis an der Notre-
Dame-Kirche von Paris fand, eine geschlossene nationale
hatte, nach Paris gehen, um dort den Stil seiner Stammes-
genossen unter den „Franken-Maurern“ zu studieren. Ein
gotisches Wort ist dieses Wort „Frank“, wie das gleichbedeu-
tende „frei“ (freis). Der grosse Meister des gotischen Stils,
Baugenossenschaft waren, die
sich die „Fränkischen Mau-
rer“ nannten, die „Franken-
maurer“. Dieses Wort heisst
auf französisch die „Franc-
ma9ons“, und wer heutzu-
tage die Maijonnerien, die
Maurergenossenschaften und
Maurergeschäfte von Paris
kennt, zweifelt nicht, was
man auch sonst weiss, dass
die Baugenossenschaften des
gotischen Stils sich selbst-
verständlich auch „MaQon-
nerien“ nannten. Mit „Frei-
maurer“ wurde in späterer
Zeit und in symbolischer
Auffassung für eine grosse
unter dem Druck der Je-
suitengesellschaften entstan-
dene Protestorganisation das
übersetzt, was ursprünglich
eine fränkische Gemeinschaft
bezeichnet hatte. Das Wort
„franc“ heisst auf französisch
vor allem Franke, wie es
frank und frei bedeutet. Es
ist ein rein germanisches
Wort. Der gotische Stil ist
der Frankenstil, der beson-
Hötel de ville in Paris.
der selbst ein fränkischer
Maurer war, fand in Paris
seine gotisch benannten
Stammesgenossen vor, wie
sie heute noch jedermann
in Paris an ihren blonden
Locken, ihren blauen Augen
erkennt. Denn sie leben
noch alle.
Von französischer Bau-
phantasie zu sprechen, be-
deutet schon seit dieser Zeit
eine Art von Negation. Der
Abt Suger von St. Denis,
der dort die ersten gotischen
Konstruktionen schuf, war
ganz gewiss ein Franke. Su-
ger ist der germanische Na-
me Suitger, der z. B. am
Dom zu Münster verewigt
ist. Und es spricht die
grösste Wahrscheinlichkeit
dafür, dass dieser Stil von
den „Freimaurern“, d. h. in
Wirklichkeit den „Franken-
maurern“, den „Franc-
MaQons“ als einer Bauge-
nossenschaft zunächst ge-
hütet und dann gerade auf
Grund der damals noch be-
dere Stil der fränkischen Welt, die in Europa seit Chlodwig
und Karl dem Grossen ganz bestimmte Gebiete inne hat.
Wir wissen anderweit genau, dass der gotische Baustil von
den Zeitgenossen der Erbauer von Notre-Dame in den
Chroniken als „fränkischer Stil“ bezeichnet wird, als opus
francigenum. Damals hiess das im Mönchslatein nicht
„französisch“, denn Franzosen im heutigen Sinne gab es
im 12. und 13. Jahrhundert noch nicht, sondern nur „Fran-
ken“, als den Zusiedlern, die seit Karl dem Grossen von
Paris bis nach Aachen sassen. Ein Werk der Franken war
also dieser Stil, und ebendeshalb nannte man ihn gotisch, weil
das Bewusstsein lebendig geblieben war, dass diese Franken
vor gar nicht langer Zeit noch das gotische Althochdeutsch
gesprochen hatten auch in Frankreich, wie sie zur Zeit des
Emporkommens der Baugotik, neben der sich bildenden neuen
französischen Sprache auch noch mittelhochdeutsch verstanden.
So konnte unser deutscher Meister Erwin von Steinbach, der
ein Franke war, wie schon sein Name „Erwin“ zeigt und aus
Steinbach in Baden stammte, das eine fränkische Bevölkerung
stehenden germanisch-fränkischen Verwandtschaft so rasch
und schnell international verbreitet wurde. Denn wie ich in
verschiedenen Blättern gezeigt habe, dass gewisse Bauernhaus-
formen der Verbreitung der europäischen Stämme entsprechen,
so sind die Träger der internationalen Baustile doch nationale
Männer, die auf Grund ihres National-Empfindens gegebene
Neuerungen umwandelten oder den klimatischen Verhältnissen
anpassten. Wenn wir erwägen, dass in Paris Franken sassen,
dass ihre ripuarischen Stammesgenossen von Antwerpen bis
Köln hausten am Rhein entlang, wo der Franke Erwin v. Stein-
bach zu Strassburg und weiter wirkte, dass später die Ost-
franken vom Main und von Nürnberg mächtig sich entwickelten,
um Donauabwärts bis nach Wien das „opus francigenum“,
das „Frankenwerk“ des Stephansdoms zu tragen, so erklären
unsere Ausführungen manches, was man über den gotischen
Stil noch rät. Ich habe gestanden in der Domhalle von Notre-
Dame zu Paris, ich habe aber auch bewundernd den fünf-
schiffigen Bau des Domes von Kaschau im äussersten Osten
der Gotik betrachtet; ich habe in der Westminster-Abtei zu