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2? 8

„Sie haben es errathen. Das Bild stellt
aber meinen Bruder vor, meinen einzigen Bru-
der, der, wie Sie, Richard hieß. Er ist todt. —
Sie sehen ihm auffallend ähnlich und wären mir
schon beim ersten Blicke in Ihr Angesicht lieb ge-
wesen, auch wenn Sie mir Fidel nicht zurück-
gebracht hätten. Doch lassen wir das jetzt!"
setzte sie mit einem leisen Seufzer hinzu. „Wollen
wir Englisch sprechen, Herr Braun?"
„O bitte, nennen Sie mich Richard! ich biu's
so gewöhnt und es lautet auch besser als das
trübselige .Braunsi"
„Gut, also Richard, wenn's Ihnen so lieber
ist. — Wie lange treiben Sie Ihr Englisch, Mr.
Richard?" frng sie dann in dieser Sprache.
„Regelmäßigen Unterricht darin habe ich erst
seit vier Monaten; ich besaß aber schon einige
Vorkenntnisse," gab der Knabe ans Englisch zurück.
„Mein Oheim ist in allen lebenden Sprachen gut
bewandert und hat mich so viel gelehrt, als er
eben in mich hineinbringen konnte." Er zuckte
dabei mit den Achseln, als ob er sagen wollte:
gar viel ist's nicht gewesen, die Schuld lag jedoch
an mir.
„Das Lernen war nicht ganz nach Ihrem
Geschmacke, scheint mir," lächelte Florence.
„Aufrichtig gesagt: damals nicht. Ich bin
lieber in Feld und Wald herumgelaufen, auf
Bäume geklettert und mit den Hasen um die
Wette gesprungen, als hinter den Büchern ge-
sessen. Hier muß ich aber lernen und thue es jetzt
auch gerne; wenn aber die Freistunde schlägt, ja,
dann habe ich Haus und Stadt bald im Rücken
und bin nicht mehr der gelehrte Gpmnasist, son-
dern ganz allein ein fröhlicher, wilder Knabe."
„Da würden Sie wohl nichts dagegen einzu-
wenden haben, wenn wir in den Garten hinab
gingen, wir könnten eine Parthie „Haschens"
zusammen spielen, nicht?" meinte, von dem mun-
teren Wesen ihres jungen Freundes belustigt, Flo-
rence lachend und erhob sich.
„Von Herzen gern, Miß!" betheuerte Richard,
ihrem Beispiel folgend.
Beim Eintritt in den Garten trafen sie auf
den Doktor, der in Gesellschaft Fidels unter den
Fenstern des liebenswürdigen Gastes promcnirte.
Der fast trübe Ernst, welcher auf seinem An-
gesicht lag, wich, als er des Mädchens ansichtig
ward, dem Ausdruck reinster Freude, und sie
gingen nun zusammen nach einem der schattigen
Ruheplätze, dem der galante Kommerzienrath den
Namen „Florence-Ruhe" beigelegt hatte.
si.
Es war den Tag über sehr heiß gewesen und
auch der Abend hatte nicht die in der letztvergange-
nen Woche schon bemerkbar gewordene herbstliche
Kühle gebracht; kein Wunder daher, daß der kor-
pulente alte Herr, welcher in Gesellschaft eines zwei-
ten von noch jugendlichem Alter und einer braun-
lockigen Dame den etwas steilen, durch stark ge-
lichtete Laubholzwaldungen sich schlängelnden Weg
hinanschritt, von Zeit zu Zeit das Taschentuch
zog, um den Schweiß von Stirne und Wangen zu
trocknen.
Diesem Trio voraus wandert ein schon ält-
liches aber noch rüstiges Frauenzimmer zur Seite
eines mit Reisesäckeu beladenen Jungen, der neben-
bei als Wegweiser zu dienen scheint, und zuweilen
einen verwunderten Blick nach seiner Begleiterin
hinwirst, die in gar sonderbarem, ihm völlig un-
verständlichen Deutsch immer von Neuem den Ver-
such macht, eine Unterhaltung mit ihm anzn-
knüpfen.
In Waldhofen, einem durch ringsum sich ziehende
bewaldete Höhen von der übrigen Welt fast ab-
geschnittenen Dörfchen angelangt, hatten der Kom-
merzienrath und seine Reisegefährten in dem ein-
zigen und wie es schien nur höchst bescheidenen
Ansprüchen genügenden Wirthshause ein Unter-

kommen für die Nacht zu finden gehofft. Florence,
welche dem jungen Braun versprochen, einen ihr
mitgegebenen Bries dem Oheim persönlich zustellen
zu wollen, wünschte dies heute noch zu thuu, da
die Gesellschaft Vorhalle, morgen mit dem Frühesten
das Waldschlößchen zu besuchen. Auf Befragen
des alten Herrn nach dem Pfarrhanse entgegnete
jedoch der Wirth: der Pastor sei gestern nach der
Stadt gegangen und werde vor morgen Mittag
nicht zurück sein. Wenn die Herrschaften beab-
sichtigten, über Nacht zu bleiben, so stünden im
Jägerhause oben einige hübsche Zimmer parat, da
er selbst vor Kurzem erst im Dorfe aufgezogen
und noch nicht zur Beherbergung vornehmer Gäste
eingerichtet sei.
So brach denn die kleine Reisegesellschaft so-
gleich nach dem Jägerhanse auf, sich vorbehaltend,
auf dem Rückweg den Pfarrer aufzusuchen.
Der Kommerzienrath trocknete sich Angesichts
des nun zwischen den Bäumen anftauchenden
Schlößchens zum letzten Mal für heute die gerölhcte
Stirne. Bald stand die Gesellschaft vor dem zwei-
stöckigen, mit vier spitzen Eckthürmchen und ver-
schiedenen, auf seine frühere Bestimmung Bezng
habenden Emblemen gezierten Gebäude. Spuren
der Zeit und der Vernachlässigung zeigten sich
allenthalben: von dem röthlichen Anwurf waren
große Stücke abgesprungen. Die Fensterläden
hingen lose, theilweise halb zertrümmert in ihren
Angeln und das steinerne Wappen oberhalb der
Eingangsthüre verschwand beinabe unter einer
Decke von schwärzlich-grünem Moose.
Diesen Zeichen des Verfalls gegenüber machten
die spiegelblanken Fensterscheiben, hinter denen Vor-
hänge von tadelloser Reinheit sichtbar waren, den
wohlthuenden Eindruck von Wohnlichkeit und ver-
riethen das sorgliche Walten einer Frauenhand
in dieser mehr denn klösterlichen Einsamkeit.
Ein junges Dienstmädchen wies die Ankommen-
den zurecht und eilte hinweg, um die im nahen
Garten beschäftigte Hausfrau zu rufen. Miß Eve-
lina nahm dem Knaben das Gepäck ab und dieser
entfernte sich, nicht weniger erfreut als betroffen
über die ihm vom Kommerzienrath eingehändigte
Belohnung.
Sie traten nun in die zu ebener Erde ge-
legene, fehr geräumige und mit dunklem Eichen-
holze getäfelte Wohnstube. Die Dielen waren
mit feinem Sande bestreut, zwischen den kurzen,
roth und weiß gesteinten Vorhängen blühten Ge-
ranien und Astern, und eine Reihe ziemlich grell
kolorirter Bilder, Jagdscenen vorstellend, erheiter-
ten die düstere Färbung der Wände, an welchen
ein mit buntem Kattun bekleidetes Kanape und
desgleichen Stühle zur Ruhe einluden.
In einer der tiefen Fensternischen saß eine
reinlich gekleidete alte Frau mit dem Strickstrumpf
in der Hand. Eine weiße Haube mit tief in die
Stirne fallendem Streifen saß auf dem ehrwürdi-
gen Haupte, auf der scharfgebogenen Nase ein
altmodischer Nasenklemmer, welchen sie beim Ein-
tritt der Fremden sofort abnahm und sich erhob,
diese zu begrüßen.
Gleich darauf trat ein hübsches, rundes Frau-
chen unter vielen Entschuldigungen, daß sie die
Herrschaften erst jetzt willkommen heiße, zur Thüre
herein, stellte sich als die Gattin des fürstlichen
Forstwarts Jung vor, bedauerte, daß ihr Mann
gerade heute nicht zu Hanse sei und bat die Herr-
schaften, sich's bequem zu machen.
Die Frage des Kommerzienraths, ob Frau
Jung für so viele Gäste eingerichtet sei, beant-
wortete sie mit der Versicherung: sie seien mit
Beiten und allem Röthigen hinreichend versehen,
nur müßten die Herrschaften vorlieb nehmen, wie
sie's eben hätten, und entfernte sich dann mit Eve-
lin, um die nöthigen Vorbereitungen zu treffen.
Nach wenigen Minuten stand ein mit vortreff-
lichem Schwarzbrod, Bier, Honig und Butter be-
ladener Tisch vor dem Kanape; Florence, die

beim Eintritt in die Stube etwas gedrückt oder
erschöpft geschienen, befand sich bald in der heiter-
sten Stimmung und ließ nicht nach, bis die alte
Fran sich an ihre Seite setzte.
„Sie sind wohl die Mutter der Frau Jung?"
wandte sich der Kommerzienrath, nachdem er mit
großem Behagen ein Butterbrod verzehrt, zu der
Greisin.
„Nein, lieber Herr! wir sind gar nicht anver-
wandt, kommen darum aber um so bester mit einan-
der ans," versetzte diese und fuhr mit einem Lächeln
fort: „könnte auch nicht wohl anders sein, denn
ich stehe im Einundneunzigsten, lieber Herr! Mein
seliger Mann war Leibjäger beim Großvater der
jetzigen Durchlaucht, ich verlor ihn gar frühe und
habe auf Lebenszeit hier oben freie Wohnung.
Der jetzige Forstwart ist schon der sechste, den ich
einziehen sah — 's ist nur ein geringer Dienst
und so bleibt keiner länger als es sein muß."
„Ich würde Sie kaum für eine Achtzigerin
gehalten haben, so gut ist Ihr Aussehen," ver-
sicherte Max, indem er Florence die Schale köst-
lichen Honigs reichte.
„Ja, Gott sei Dank, ich hab' in meinem Leben
noch keinen Doktor gebraucht und bin noch bei
besserer Gesundheit, denn manch' junges Mädchen.
Das macht die gute Lust, die wir da oben haben;
ich sag's alleweil: die verhilft Einem eher zu
langem Leben, denn Doktor und Apotheker."
„Da hast Dn's!" raunte der Kommerzienrath
seinem Sohne mit kaum unterdrücktem Lachen zu,
und Florence blickte ihn so schelmisch an, daß
auch er Mühe hatte, seinen gewöhnlichen Ernst
beizubehalten.
„Sie haben in dieser langen Zeit wohl schon
viele Gäste hier oben gehabt, liebe Frau?" fragte
die Letztere dann ihre ehrwürdige Nachbarin.
„Ja, das haben wir; nur müssen die Herr-
schaften nicht denken, daß es ab- und zu gehe,
wie in einem Gasthofe. Dann und wann kehrt
ein Reisender ein, der sich das Haus beschauen
will und der dann übernachtet, manchmal ein
wandernder Maler, der unsere Bäume sammt
dem Schlößchen abzeichnet und acht Tage bei uns
vorlieb nimmt, oft aber bleiben die Gaststuben
Monate lang leer stehen und nur Tagesgäste
spazieren herauf, genießen etwas und ziehen dann
wieder ab."
„Da müssen Sie schon interessante Bekannt-
schaften gemacht haben, deren Sie sich dann in
Ihrer Einsamkeit mit Vergnügen erinnern," meinte
der alte Herr.
„Freilich habe ich das. Wenn ich so in der
Stille dasitze und stricke, so muß ich gar oft an
das Eine oder Andere denken, das hier ein- und
ausgegangen ist. Ich habe schon viel erlebt,
lieber Herr, und sah manch' junges Leben vor
mir in's Grab sinken."
Die alte Fran seufzte und hob nach einer
Panse wieder an:
„Der vorige — nein, der vorvorige Forstwart
war's — hauste noch oben, da ist auch einmal
ein junges Ehepaar den Weg da herauf spaziert;
sie haben sich nur das Schlößchen ansehen wollen,
es gefiel ihnen aber so gut hier, daß sie ihre
Dienerin sammt dem Gepäck Nachkommen ließen
und einige Monate bei uns blieben. Sie hatten
vorgehabt, in die Schweiz zu gehen, schoben es
aber von Woche zu Woche auf, und dann kam
das große Unglück —"
Sie verstummte plötzlich, senkte das Kinn in
die Hand und starrte mit einem Blicke völliger
Geistesabwesenheit vor sich hin.
„Welches Unglück? o liebe Fran, sprechen
Sie!" bat Florence fast erschrocken, indem sie ihre
Hand sanft auf den Arm der Alten legte. Diese
ward sogleich munter und sagte lächelnd:
„Da bin ich einmal wieder in's Träumen
gerathen — so geht mir's gar oft, liebes Fräu-
lein, absonderlich, wenn ich an diese traurige
 
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