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Der Verschwundene.
Novelle
von
Sieudel.
(Fortsetzung.)
Nachdem Beide ver-
schwunden waren, kehrte
Florence zu dem Gemälde
zurück, das mit einem Mal
eine fast unerklärliche An-
ziehungskraft auf sie aus-
übte. Noch stand sie sin-
nend davor, als Eveline
ganz gegen ihre sonst so
bedächtliche Weise in's Zim-
mer hereingestnrzt kam und
ohne den Wiedergefundenen
eines Blickes zn würdigen
ausrief:
„Miß! Miß! Haben
Sie den sungen Fremden
gesehen, der eben die Treppe
hinabging? — Haben Sie
nichts bemerkt? — Das
Bild im Spiegel da sieht
Ihnen nicht ähnlicher, als
der blonde Knabe dem
armen Mr. Richard."
„Das ist's, ja das
ist's!" — Und Florence
eilte in's Nebenzimmer
und kehrte nach einigen
Sekunden mit einem Minia-
turgemälde iu den Händen
zu ihrer Getreuen zurück.
„Dies ist, wie Du
weißt, Richard in seinem
fünfzehnten Jahre, nnd —
ja Du hast recht: ebenso
ist's dieser schöne Knabe!
Ich habe mich nur nicht
gleich verstanden," setzte sie
. mit bewegter Stimme hin-
zu: „aber ich will, ich muß
hin nach jenem Schlößchen,
das er seine Heimath
nannte."

Wilhelm I., Kaiser von Deutschland. (S. 279.)


Einige Tage waren ver-
gangen.
Richard Braun hielt
Wort: am Mittwoch Punkt
vier Uhr erschien er bei
Florence und wurde mit
einer Herzlichkeit empfan-
gen, als wären sie schon
alte Bekannte.
Auf dem kleinen Tische,
an welchem sie sich nieder-
ließen, lag, ob aus Zufall,
oder absichtlich dahin ge-
bracht, wollen wir nicht
untersuchen, das Bild ihres
Bruders, und zwar so ge-
legt, daß Richard's Augen
sogleich darauf fallen muß-
ten. Dies geschah denn
auch. Florence sah ihn
erröthen, und eine über
seine Stirne gefallene Locke
zurnckwerfend fragte er be-
scheiden:
„Darf ich das Bild
näher betrachten, Miß
Milten?"
„Ja, sehen Sie sich's
nur genau an und sagen
Sie dann, ob Sie eine
Aehnlichkeit zwischen diesem
Bilde und Jemanden, den
Sie kennen, herausfinden,"
erwiederte sie lächelnd, aber
mit einer Bewegung, die
dem Knaben kaum ent-
gehen konnte. „Nun, ent-
decken Sie nichts?"
„Doch! ich glaube —
aber vielleicht täusche ich
mich —" stotterte er ver-
legen, warf dann einen
raschen Blick in den ihm
gegenüber hängenden Spie-
gel und sagte muthig:
„Wenn Sie mich nicht aus-
lachen wollen, Miß, so
will ich esJhnensagen: das
Porträt gleicht mir selbst."

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