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Der Verurtheilte.
Eine dunkle Geschichte
von
Arärler-Wcmfred.
1.
Das schöne Thal Veltlin, durch seine Geschichte
wie durch seinen Bodenreichthum merkwürdig,
bildete ehedem die Delegation Sondrio im lom-
bardisch-venetianischen Königreich und liegt an der
Nordgrenze der Lombardei, zwischen Bergamo,
Como, der Schweiz und Tyrol, durchflossen von
der Adda, die dem Comersee zu¬
geht, und durch die Alpen von
Graubündten geschieden. Die nörd-
liche und zum Theil auch die
südliche Seite dieses ganzen an
zwanzig Stunden langen Thales
gestaltet sich, je nachdem es breiter
oder enger ausläust, zu einem
größeren oder kleineren Amphi-
theater von unbeschreiblicher Schön¬
heit. Bald springen hohe Berge
und sanft abbängende Hügel bis
zum reizenden Ufer der Adda, bald
wieder ziehen sie sich landeinwärts
und bilden stundenlange Halbzirkel
nm die schönsten Ebenen. Das
Ufer des nicht unbeträchtlichen, fisch-
reichen Flusses, die Hügel, die
Thäler, die Abhänge, die Gipfel
der Berge sind mit Kirchen, Dör¬
fern, Höfen, Hütten und Palästen
besäet, die gleichsam aus Wein-
reben und Kastanienwäldern heraus-
znwachsen scheinen, und die Landsitze
der üppigen und ahnenstolzen Edel-
leute nehmen sich in der mannig-
faltigen Scenerie der Landschaft
gar herrlich aus. In dem eigent-
, lichen Thale herrscht ein ewiges
Grün vom Silberfluß durch-
schlängelt, der große und kleine
Waldbäche in seinen Schoos auf-
nimmt, und die mit Kastanien,
Lärchen und Buchen bedeckten Berge
der Südseite des Thales werfen
einen feierlichen abgreuzenden
Schatten auf das lichte Gelände.

Die Nordseite des Thales schirmt höheres Gebirge;
kühle Grotten liegen hier in Kastanienhainen
und Fplsenklüften, und kleine und große Bäche
stürzen aus den höheren Schichten in schönen
Wasserfällen und sammeln sich hie und da in
moosigen Becken.
Der Landstrich, von welchem hier die Rede
ist, gehörte früher zum Herzogtum Mailand, kam
nach Kriegen und durch Vertrag im Jahre 1512
an Graubündten, war hundert Jahre später der
Schauplatz einer blutigen Bewegung, nach deren
Wechselfällen er im Jahre 1637 wieder zu Grau-

bündten gelangte. Seit 1797 der cisalpinischeu
Republik einverleibt, wurde er 1805 als Depar-
tement der Adda ein Theil des Königreichs Ita-
lien, bis es vom Jahre 1814 an seine dermalige
Organisation erhielt. Die Periode, in welcher
nachstehende Geschichte spielt, ist das Jahr 1809,
wo nach allmähligem Einleben der französischen
Gesetzgebung der frühere rechtlose und willkür-
reiche Zustand, das Verkaufen des Rechts, und
das feile Privilegium auf Mord und Verbrechen
großentheils aufgehört, ohne daß jedoch ein Theil
der leidenschaftlichen und abergläubischen Be-
wohner der Sündenfreiheit von
ehemals vergessen hatte.
Nicht allzuweit von Sondrio,
dem Hauptorte des Veltlin, auf
einem Hügel des linken Malengo-
thales, das in die Alp Bosko aus-
läuft, liegt das Schloß der Familie
P ellizani, deren Vorfahren nach
einem Zerwürfniß mit den Her-
zogen von Mailand schon vor
dreihundert Jahren hierher über-
siedelt waren, um mit ihren Reich-
tümern und mit ihrem störrigen
Willen unter dem lockeren Grau-
bündtner Regiments unbehindert
eine große, fast selbstständige Rolle
zu spielen. Das alte feste Schloß
hatte vor etwa sechzig Jahren
einen gänzlichen Umbau erlebt und
prangte jetzt in dem romantischen
Thal als eine Zierde, ebenso durch
Geschmack und Umfang, wie durch
Glanz und Behäbigkeit im Innern
ausgezeichnet.
An einem Herbstabende des
Jahres 1809 war auf dem grünen
Rasen vor dem Schlosse eine
Schaar munterer Bauern versam-
melt, angethan mit ihren Festklei-
dern, denn sie erwarteten die An-
kunft des Grafen Enrico, des
einzigen Sohnes des Marchese
Pellizani, ihres hochgeehrten Herrn.
Und doch war der Marchese ein
stolzer und unbeugsamer Gebieter.
Ihn erfüllte die tiefste Verachtung
gegen das moderne Ketzerthum, wie
F 97

Mark Lcmon. (S. 667.)
 
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