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Herzen wartete ich auf seine Rückkehr. Mehr als
zebnmal kam mir der Entschluß, nach der Stadt
heimzugehen, die Meue hatte mich gepackt und
mein Vorhaben stand plötzlich wie ein drohendes
Verbrechen vor mir. Mechanisch suchte ich in meiner
Tasche nach dem Hausschlüssel, als wolle ich mich
überzeugen, ob mir der Rückweg noch offen stehe.
Aber denken Sie sich meinen Schreck, meine Ueber-
raschung, als ich den Schlüssel nirgends mehr
fand! Ich durchsuchte alle meine Taschen — um-
sonst! Kurzsichtiges Kind, das ich war! Ich ahnte
nicht, daß Pitt mir den Schlüssel aus der Tasche
entwendet hatte, um in das Haus meines Lehr-
herrn zurückzukehren und dort einen Diebstahl zu
verüben."
Der Jäger hielt einen Augenblick inne und
athmete tief auf. Dann fuhr er fort:
„Wenige Augenblicke nachdem ich jene Ent-
deckung gemacht, hörte ich Schritte auf dem Weg
zum Walde. Pitt kam athemlos gelaufen. Ich
wollte ihm Vorwürfe machen, daß er mich so
lange hatte warten lassen, allein er zog mich
eilig mit sich fort in's Dickicht. Er kam mir ver-
stört vor und ich begann, mich vor ihm zu fürchten.
Endlich erreichten wir eine freie Anhöhe/ von der
ich noch einen letzten Abschiedsblick auf das ferne
Städtchen zurückwerfen wollte. Ich fing zu weinen
an — er lachte mich höhnisch aus und nannte
mich eine Memme, die für den Ladentisch ge-
boren sei.
„Großer Gott!" rief ich plötzlich erschreckt,
„es brennt in X., sieh, dort schlagen Flammen
empor."
Pitt meinte, das käme ja wie gerufen, um
unsere Flucht zu befördern und die Aufmerksamkeit
von uns abzulenken. Noch einmal schwankte ich
— mir ahnte ein fürchterliches Unheil, das Pitt
ausgeführt, allein da riß er mich mit Gewalt
mit sich fort. Er war viel älter und wohl drei-
mal so stark wie ich. Meine Widerstandskraft
erlahmte, ich fühlte mich bald ein willenloses
Werkzeug in den Händen dieses fürchterlichen
Menschen ... auf Umwegen, schlau und raffinirt
ersonnen, gelangten wir nach Hamburg. Alles
war wie auf unsere Flucht vorbereitet. Unser
Schiff ging am selben Morgen, wo wir die Elbe-
mündung erreichten, in die hohe See — wir waren
gerettet!
Pitt ging in Newyork mit mir an's Land,
entschlossen, in Amerika zu bleiben. Hier zeigte
er mir feine Baarschaft, es war gestohlenes Geld,
das Vermögen meines armen Lehrherrn, der immer
gut gegen mich gewesen. Eine fürchterliche Ahnung
dämmerte in mir auf.
„Mensch!" sagte ich entsetzt, „am Ende war's
fein Haus, das in jener Nacht brannte."
„Möglich, ja, sogar sehr wahrscheinlich," ant-
wortete er mit einem häßlichen Lachen, das ich
noch höre; „was ist denn Schreckliches dabei?"
„Du hast es angezündet!" rief ich außer mir.
„Und wenn ich's ihat? für wen geschah's, als
für Dich, Du feige Seele!"
Ich war erstarrt und wünschte in diesem
schrecklichen Augenblick, im Ocean versenkt zu sein.
Nun, was soll ich mehr erzählen! Entsetzen und
Unglück erfüllten mich; ich ging fortan meine
eigenen Wege und habe viel erdulden müssen in
dem Lande der Freiheit: Elend und Noth, Hunger
und Leiden aller Art, ich war oft dem Selbst-
morde nahe. Doch blieb ich immer ehrlich und
das Glück lächelte mir endlich, wenn man den
Besitz von Geld und Gut, mit dem Stachel der
Reue im Herzen, Glück nennen darf. Was ich
gewünscht in ruhelosen Nächten, es erschien. Der
furchtbare Krieg durchbrauste Nord-Amerika und
zerfleischte die Söhne der großen Republik — ich
wurde Soldat, konnte für eine große, heilige
Sache mein Leben wagen, das nunmehr einen
Zweck bekam, den Zweck, für welchen ich Ehre,
Heimath und Familie so leichtsinnig geopfert hatte.

Oft beschlich mich freilich ein tiefes Weh bei
der Erinnerung an meinen Vater, der einst für
die Freiheit des eigenen Vaterlandes geblutet und
gelitten hatte. Es mußte doch ein anderes Ge-
fühl sein, für die eigene Sache zu kämpfen, zu
bluten! — Mein guter Stern wollte, daß ich kurz
vor Ausbruch des gegenwärtigen Krieges nach
Europa, nach England, zurückkam. Als ich von
der Kriegserklärung vernahm, da zögerte ich keinen
Augenblick, mich freiwillig dem Kampf für's Vater-
land zu weihen. Bei Wörth verwundet, lernte
ich in einem Lazareth zu Weißenburg den Doktor
Berthold von hier kennen, der mich zum Zweck
meiner vollen Wiedergenesung hierher zu schicken
beschloß. Ich zauderte anfangs, auf diesen Plan
einzugehen — allein die Sehnsucht nach meinem
alten Vater, nach dem Orte meiner Heimath, war
gleich mächtig in mir, als das Bewußtsein, daß
ich hierher zurückkehren müsse, um meinen Namen
von einem schweren Makel, der mit Unrecht auf
ihm lastet, zu reinigen."
Des Bürgermeisters Züge hatten sich während
dieser Erzählung allmählig aufgeklärt; er schien
Vertrauen in die Aussagen Leonhards zu gewinnen
und ermunterte ihn, fortzufahren.
„Ich hatte bislang nicht den Muth, mich
meinem Vater zu erkennen zu geben," nahm Brandt
wieder das Wort, „fehlte es mir doch an allen
Beweismitteln, ihn über meine Unschuld an jenem
Verbrechen aufzuklären. Jetzt aber scheint endlich
die Stunde gekommen zu sein, wo der Himmel
Erbarmen mit mir hat, da ich vor wenigen Augen-
blicken jenen Mann, der vor zwölf Jahren die
schwarze That vollbracht, in Gesellschaft meines
Bruders gesehen habe. Da zögerte ich denn auch
nicht länger, zu Ihnen, Herr Bürgermeister, der
Sie meiner Familie stets die innigste Theilnahme
bewiesen, meine Zuflucht zu nehmen und Sie um
Ihren Beistand, den Verbrecher zu entlarven, zu
bitten."
Leonhard war zu Ende; der Bürgermeister
reichte ihm bewegt die Hand.
„Sie können auf meine volle Theilnahme, auf
meinen kräftigsten Beistand rechnen, Herr Held-
berg!" sprach er herzlich. „Beschreiben Sie mir
jenen Menschen, damit ich die nöthigen Schritte
gegen ihn thun kann."
Leonhard entwarf ein genaues Bild von Pitt,
worauf der Bürgermeister erstaunt ausrief: „Das
kann kein Anderer sein, als der Gehilfe Ihres
Bruders, der sich seit einigen Monaten unter dem
Namen Lassen hier aufhält. Ich habe schon
lange ein wachsames Auge auf ihn, obwohl er
sich sichtlich bemüht, keinen Verdacht zu erregen
und Ihr Bruder ihm seinen besonderen Schutz
angedeihen läßt. Ich glaube auf der richtigen
Fährte zu sein, wenn ich ihn für den geheimen
Anstifter all' der Agitationen halte, die unsere
Arbeiterkreise hier so unheilvoll bewegen. Es wird
Ihnen sicher nicht unbekannt sein, daß Ihr Bruder
Johannes ein fanatischer Anhänger der, Social-
Demokraten ist, ich bin überzeugt, daß jener ge-
fährliche Mensch ihn nur als Werkzeug benützt,
um sich selber den Rücken frei zu halten."
„Gewiß wird es so sein! Er versteht es vor-
trefflich, Andere vorzuschieben und zu verderben
und sich selber zu decken," seufzte Leonhard.
„Beruhigen Sie sich, mein lieber, junger
Freund!" sprach der Bürgermeister zutraulich; „wie
ich von Ihrer Unschuld jetzt fest überzeugt bin,
so wird es unter den gegenwärtigen Umständen
auch nicht schwer fallen, dieselbe sonnenklar zu be-
weisen und Ihre Ehre vor der Well wieder her-
zustellen. Fassen Sie Muth, Gott ist mit Ihnen,
das eiserne Kreuz auf Ihrer Brust darf keinen
Verzagten schmücken. Die Lassalleaner halten heute
Abend eine große Versammlung, bei welcher Ihr
Bruder mit seinem Gehilfen nicht fehlen wird.
Wir haben genügenden Grund, zu glauben, daß
jene Partei die Abwesenheit des Militärs zu einer

Revolte benützen will, um alsdann, wie man uns
berichtet hat, eine Art Plünderung der reichen
Fabrikbesitzer in's Werk zu setzen. Ohne Excesse
wird es nicht abgehen. Bei dieser Gelegenheit
werde ich jenen Pitt-Lassen scharf beobachten und
im entscheidenden Augenblicke verhaften lassen. Eine
Haussuchung, welche jedenfalls bei ihm vorge-
nommen werden soll, wird uns sicherlich die er-
wünschte Aufklärung über seine Vergangenheit
und sein jetziges Treiben geben. Sie sehen also,
mein lieber Herr Heldberg, daß Sie allen Grund
haben, vertrauensvoll und heiteren Blickes in die
Zukunft zu schauen."
„Ich danke Ihnen aus der Tiefe meines
Herzens, Herr Bürgermeister," erwiederte Leonhard
gerührt. „Doch noch eine Bitte," setzte er, sich
rasch fassend, hinzu: „Bewahren Sie mein Ge-
heimniß vor dem Vater, bis meine Unschuld völlig
erwiesen ist."
„Das verspreche ich Ihnen gern, mein Freund,
da auch mir vor Allem daran liegen muß, daß
Pitt-Lassen von keiner Seite her Wind erhält, um
sich der Nemesis, die über ihn hereinbricht, zu
entziehen."
Er schüttelte Leonhard abermals kräftig die
Hand, worauf dieser sich mit neuer Hoffnung
im Herzen empfahl.
Es war dem jungen Manne, als er rasch durch
die wohlbekannten Straßen der Vaterstadt schritt,
wie einem Genesenden, der jahrelang Schmerzen
und tausendfaches Weh empfunden und nun plötz-
lich sich befreit fühlt von dem furchtbaren Elend,
das wie ein schwerer Bann auf Körper und Geist
gelastet.
7.
Ruhig war in diesen letzten Tagen das Leben
in „Villa Heldberg" dahingeflossen; es schien als
sei mit dem Helden von Wörth auch ein besserer,
ein milderer Geist über den alten Lieutenant ge-
kommen.
Er unterhielt sich gern mit dem Jäger und
hatte an diesem einen aufmerksamen Zuhörer;
er befand sich da in seinem Element und er-
zählte von Anno 1814, wo er die Wintercam-
pagne in Frankreich mitgemacht. Da gab's ja
der Vergleichungen, der Anknüpfungspunkte so viele
mit dem gegenwärtigen Feldzuge, der dem Alten
als die Fortsetzung und hoffentlich als der Schluß
der damaligen Campagne erschien.
Im Hause waltete die anmuthige Pauline wie
eine gute Fee, sorgte mit sinniger Aufmerk-
samkeit für die Pflege und Behaglichkeit ihrer
beiden Rekonvaleszenten und setzte sich Nachmittags
mit ihrer Lazaretharbeit still zu ihnen, um die
aufmerksame Zuhörerin bei der Erzählung der
Männer abzugeben, und nur dann und wann eine
harmlose Bemerkung oder eine Frage als Beitrag
der Unterhaltung einzuflechten.
Die Erzählungen des Onkels kannte sie nun
freilich schon fast auswendig, nichts destoweniger
freute sie sich darüber mit schmeichelnder Aufmerk-
samkeit, während sie den interessanten und über-
aus fesselnden Mittheilungen des Jägers mit fast
athemloser Spannung folgte und unwillkürlich die
Arbeit ruhen ließ und die Hand auf's Herz preßte,
wenn er die Gefahren blutiger Kämpfe so lebhaft
zu schildern wußte.
Nicht selten traf sein blitzendes Auge das ihre
und sie senkte es dann zu Boden, erröthend, verwirrt,
mit einer seltsam süßen Beklemmung, die sich das
harmlose Kind nicht zu erklären vermochte.
Brandt hatte die schwarze Stirnbinde noch
nicht ein einziges Mal in Gegenwart der beiden
Hausgenossen abgelegt; sie konnten sich auch des-
halb ein vollständiges Bild seiner Gesichtszüge nicht
machen.
„Ich möchte Sie wohl einmal ohne Binde
sehen, mein Freund!" sagte der Alte eines Tages,
als der Gast mit einem fast kindlichen Eifer Char
 
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