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586

sprach ich, „es ist nun hohe Zeit, uns auf den
Weg zu machen. Wir haben etwas über zwölf
Uhr und wir müssen unfern Flüchtling eine Strecke
vor dem Ort abfangen."
Meister Luppe erklärte sich sofort mit mir
einverstanden. Wir bezahlten daher unsere Zeche
und wanderten dann durch das stille Bergstädtchen
auf die Südheimer Chaussee hinaus.
Leider sollte unsere Geduld noch auf eine
ziemlich harte Probe gestellt werden. Wir mußten
die langsam ihr Tagespensum abschuarrende Rath-
hausuhr in Mosenhausen Eins, sogar Zwei schlagen
hören und hatten wenigstens zehnmal die Strecke
bis zu dem in respektabler Entfernung von der
Stadt gelegenen Hospitale und Armenhause hin
und zurück durchmessen, ehe wir endlich — wir
athmeten hoch auf! — die Kutsche der „grauen
Gans" heranfliegen sahen. Als sie aber näher
vor uns angelangt war, so erregte wieder ein
Haufen von Landleuten, welche dicht bei uns
stehen blieben und gleich uns dem wie im Sturm
daherrasenden Wagen entgegensahen, mein höchstes
Bedenken.
„Sollen wir wirklich in Gegenwart dieser un-
berufenen Gaffer unfern Vorsatz ausführ^n?"
flüsterte ich meinem Begleiter zu.
Der aber lachte lustig auf.
„Nur ungenirt, Herr Obergerichtsanwalt!
Passen Sie auf, wie ich das Ding ansassen werde.
Nur um des Himmels willen keinen Abschied
und keine Begrüßung. He! Christian! Ist der
Kerl taub oder blind? Willst Du wohl sogleich
still halten!"
Der alte Kutscher erkannte auf diesen energi-
schen Zuruf den Vermummten. Aber er war
offenbar schon in den Plan eingeweiht und Zeigte
durchaus keine Ueberraschung. Vielmehr parirte
er rasch seine schäumenden Pferde und zog dann
respektvoll, als sei der Schlossermeister sein Dienst-
herr, die Pelzmütze.
„Ich habe meine Tasche im Wagen liegen
lassen," sprach Luppe so laut, daß es die Bauern
nolhwendig hören mußten, öffnete dann den Schlag
und verschwand in der Kutsche. Nach fünf Mi-
nuten stieg ein Mann im langen blauen Mantel
mit mehr als zur Hälfte verhülltem Gesichte
wieder heraus und trat an mich heran. Während
dann der Wagen in einem mäßigen Trabe nach
Mosenhausen hinabrollte, schlugen wir Beide
schweigend den dicht an der Chaussee beginnenden
Fußweg nach Ulmenau ein.
Erft im Walde, als wir uns vor jeder Be-
obachtung völlig sicher fühlten, öffuete mein Be-
gleiter den hohen Biautelkragen und zeigte mir
sein freudig erregtes Gesicht. Ich fiel dem Ge-
retteten jubelnd um den Hals und habe, glaube
ich, halb vor Rührung, halb vor Freude, Thränen
vergossen.
„Bist Du's wirklich, lieber Steinmann? Aber,
warum in aller Welt hast Du den Vollbart und
die Brille nicht geopfert?"
„Es war keine Zeit dazu — ich war zu auf-
geregt, ein Scheermesser zu führen .... wir
können ja jetzt den Umwaudlungsprozeß vor-
nehmen."
„Aber Du vergissest ja ganz, daß Du das
Rasierzeug in der Kutsche gelassen hast — man
wird Dich erkennen!"
„Sei unbesorgt, im nächsten Dorfe — —"
„Nun ja, der Vetter des würdigen Meisters
Luppe mag seine Kunst an Dir üben und Dich
gleich dabei in Deinem künftigen Berufe unter-
richten, denn der Plan ist kein geringerer, als
daß Du dort einige Zeit den Figaro spielen sollst!"
Der Doktor lachte über diesen Einfall und
erzählte nun im raschen Vorwärtsschreiten, wie
sich Alles vortrefflich zum Gelingen der Flucht
gefügt habe. Die Frauen hatten den Plan so
sorgfältig vorbereitet, daß nur ein besonderes Un-
geschick zum Mißlingen hätte führen können. Stein-

mann hatte sich selbst überzeugt, daß der alte
Gefangnißwärter vor Ueberraschung gelähmt eine
geraume Zeit habe verstreichen lassen, ehe er
den ihm gespielten bösen Streich seinem ganzen
Umfange nach erfaßte. Der Flüchtling saß schon
sicher im Wagen, als der Alle noch immer ver-
geblich an der verriegelten Gartenthüre klopfte und
rasselte.
„Und das Alles verdanke ich Dir, der guten
„grauen Gans" und der wackeren Frau Schabacker!"
rief der Doktor mit leuchtenden Augen und um-
halste mich dabei noch einmal.
„Du vergissest ein weiteres, sehr wichtiges
Mitglied bei dieser Verschwörung!" warf ich kopf-
schüttelnd ein, „das wackere Klärchen Wallen-
dorf."
Steinmann aber, der mir auf dem bereits be-
tretenen schmalen Fußpfade bisher rüstig durch
das Tannendickicht vorausgeschritten war, drehte
sich auf mein Wort so rasch herum, daß ich über
die Jähheit seiner Bewegung wirklich erschrak.
„Sie vergessen?" rief er und sah mich mit
feuchten Augen an. „O, wer jemals ein verscherztes
Glück vergessen könnte! Du hast bereits einmal
diese Frage mit rauher Hand berührt und mir
schon damals weher gethan, als Du glaubst. Das
war, als ich Klara noch aus meinem Herzen
reißen zu können glaubte. Aber jetzt? — Mensch,
ahnst Du denn gar nicht, welchen scharfen Stachel
die Rettung durch sie, ja durch sie hauptsächlich,
noch zuletzt in mein Herz drücken muß? Warum
mußte dieser sonnige Strahl erst jetzt dnrch die
Wolken brechen. Warum mußte ich meins Ver-
blendung so spät erkennen, daß mir selbst die Zeit
für eine unfruchtbare Reue fehlte. Zu spät, zu
spät! Reden wir nicht mehr davon. Ich liebte
das Mädchen und liebe sie noch — man hat uns
in's Gerede gebracht und mich verdächtigt — ich
zog mich zurück mit blutendem Herzen. In der
Gefangenschaft hatte ich Zeit dazu, den Liebes-
traum, der so rasch wegflog, noch einmal zu durch-
träumen — das Alles ist nun für immer vorüber!"
„Weshalb vorüber? Weshalb für immer?"
entgegnete ich. „Du kannst — —"
„O ja, ich kann sie auch im Exile heirathen
und dann nach einigen Jahren in der herzlosen
Fremde begraben lassen. Das arme, liebe Kind
würde sich für mich opfern, gewiß, es bedürfte nur
eines Wortes. Aber möge mich der Himmel be-
wahren, daß meine Selbstsucht jemals dies Wort
ausspreche. Das Ausland ist das Elend. Schon
den Mann allein vermag es zu Boden zu drücken
und schlimm genug ist es, wenn er die Seinen
mit sich in diesen Jammer ziehen muß. Dies
aber freiwillig zu thun, wäre Verworfenheit."
Ich schwieg trübsinnig, da ich nichts wesent-
liches zu erwiedern wußte. Hohle Worte haben
noch nie ein unglückliches Herz getröstet, so oft
dies Kunststück auch versucht worden ist.
Da wir nach dieser Unterredung wieder rasch
vorwärts schritten, so war nach einer kleinen
Stunde das Ende der dichten Tannenschonung er-
reicht und wir traten nunmehr in den luftigeren
Buchenwald hinaus. Der mir von Meister Luppe
beschriebene Fußpfad zog sich auch hier auf dem
Moose nud dem dürren Laube deutlich erkennbar
das ebene Hochplateau entlang und schon ließ sich
in nicht allzu großer Ferne die Höhe erblicken,
welche terrassenförmig über die Hauptmaste unseres
Gebirges emporklimmt.
Am Fuße dieses mäßig hohen Hügels zeigte
sich aber plötzlich eine unerwartete Schwierigkeit,
denn der Weg lief hier plötzlich in ein Gewirr
von Seitenpfaden auseinander. Welcher von die-
sen Pfaden führte nun nach Katzendors? Wohl
hatte mir der sonst so praktische Meister Luppe
das beliebte: „Immer gerade aus" als Weg-
weiser mitgegeben; aber leider ließ sich hier
nicht unterscheiden, welcher von diesen Wegen der
geradere sei.

Wir hatten indessen zu Zweifeln uud Streitig-
keiten keine Zeit uud wählten auf's Gerathewohl.
Der von uns betretene Weg war und blieb glatt
und wir waren deshalb wenigstens in der ersten
Zeit völlig frei von Besorgnissen. Erst als wir
eine Stunde und daun noch eine weitere fortge-
wandert waren, begannen allmählig die Zweifel
und bald auch die Sorgen sich zu melden. Wir
mußten doch wohl auf falschem Wege sein! So
entfernt konnte Katzendorf nicht liegen, selbst wenn
man Luppe's Stündchen im weitesten Sinne des
Wortes nahm. Was war zu thun? Sollten
wir umkehren? — Nein, damit verloren wir zu
viel Zeit und dann, welchen Weg sollten wir an
der fatalen Kreuzungsstelle als den richtigen nach
Katzendorf erkennen? Stehenbleiben aber nützte
uns noch weniger. Also vorwärts, gleichviel wo-
hin wir gelangen mochten.
So verstrich wieder eine Stunde oder mehr,
die einzelnen Wölkchen, welche sich durch das dichte
Blattgewölbe erkennen ließen, färbten sich bereits
abendlichroth und immer noch waren wir in dem
bezauberten Walde. Schon fühlte ich meine
durch die Frühwanderung geprüften Kräfte ein
wenig schwinden, schon wurde es auch schwieriger,
den schmalen Fußpfad ans dem reichlich ausge-
streutcn Laube zu erkennen, da senkte sich die
bis dahin ebene Hochfläche erst allmählich, dann
immer deutlicher in ein Waldthal hinab. Gott-
lob, das war doch wenigstens eine Abwechslung
und gab der bereits bedenklich sinkenden Hoffnung
neue Nahrung. Auch der Wald trat endlich zn
beiden Seiten des jetzt wieder deutlicher erkenn-
baren Weges zurück. Wir wanderten nunmehr
auf einer Wiese und dann am Rande eines schilf-
umsäumten Weihers dahin und hofften schon
in Kürze in eine offene Felvflur hinauszutreten,
als sich unserem Fortschreiten plötzlich eine uner-
wartete Schranke entgegenstellte. Quer über das
bereits tief in das Gebirge eingesenkte Thal zog
sich ein Wildpark-Gatter, besten Thür verschlos-
sen war.
Was war hier zu thun? Steinmann, welcher
sich noch rüstiger fühlte als ich, begann rasch ent-
schlossen die Untersuchung, ob die Schranke sich
vielleicht umgehen laste. Allein obwohl er sich
so weit entfernte und so lange ausblieb, daß ich
zuletzt um ihn besorgt wurde und soeben be-
schloßen hatte, ihm zu folgen, so kehrte er endlich
doch ohne Resultat zurück. Das Gatter lief, so
weit der Doktor hatte sehen können, quer über
Berg und Thal.
„Was sollen wir anfangen?" sprach ich.
„Weißt Du hier eiuen Rath, Steinmann?"
Der Doktor zuckte ärgerlich die Achseln. „Fa-
tale Situation! Am Ende wird uns nichts übrig
bleiben, als das Gatter zu übersteigen."
„Aber weißt Du auch, wohin wir dann ge-
langen?"
„Das ist nach meiner Ansicht gleichgiltig."
„Nicht so gleichgiltig, als Du denkst, bester
Freund," entgegnete ich. „Wir haben allen
Grund, eine Kollision mit Förstern und Wald-
wärtern zu verhüten. Das wäre der Anfang vom
Ende."
„Ganz wohl, aber erkennst Du etwa einen
bessern Ausweg, weiser Salomo? Von einer Um-
kehr ist bei dieser Dunkelheit nicht mehr die Rede.
Es bliebe uns eben nur die Möglichkeit, in diesem
Walde zu bivouakiren."
„Aber ohne Feuer! Wie, wenn Du er-
kranktest ?"
„Sichst Du wohl," sprach Steinmann fast
triumphireud, „daß es besser ist, meinem kühneren
Rathe zu folgen. Einen Förster kann man viel-
leicht vermeiden, oder persuadiren; ein Waldläufer
ist für die Reize eines halben Guldens nicht un-
zugänglich. Im äußersten NothfaUc muß die
Doppelpistole hier helfen, die ich glücklicherweise
in der Wagentasche gefunden habe."
 
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