Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
—ZN 678

Mit diesen Worten begann Julius den Hügel
binanznsteigen und ließ seinem Vetter keine andere
Wahl, als den Heimweg einzuschlagen, während
der herannahende Sturm bereits durch das Na-
delgehölz der Waldungen zu heulen begann. —
In kurzer Zeit batte das Unwetter den höch-
sten Grad erreicht; Wirbelwinde rasten um die
Eckthürme des Schlosses und schlugen mit solcher
Gewalt an die Manern, daß diese in ihren Grund-
festen zu wanken schienen. Finsterniß hatte sich
plötzlich auf Landschaft und Wald gelagert, gleich-
sam um den Blitzen, die gar häufig aus den Wol-
ken niederzuckten, ein grelleres Licht zn verleihen.
Zum großen Schrecken der abergläubischen Diener
des Schlosses warf der Blitz die große Eiche nie-
der, welche außerhalb des Hauptthores den Ein-
gang mit ihren hundertjährigen Armen geschirmt
und bis jetzt allen Stürmen der Zeit und des
Wetters getrotzt hatte. Die Sage wollte wissen,
das Leben dieses ehrwürdigen Baumes und das
Geschick der Familie Pellizani sei aneinander ge-
bunden. Der ungeheure Schlag, welcher den
Waldriesen vernichtet hatte, zitterte in banger
Angst durch die Gemüther. Dichte Regenschauer
schlugen unaufhörlich an das Schloß und der
Marchese wurde von Minute zu Minute unruhi-
ger über das Ausbleiben feines Sohnes und
Neffen.
An dem Fenster des großen Empsangssaales,
welches nach dem Walde hinaus sah, hielt sich
Lucia nur mühsam aufrecht und warf von Zeit
zu Zeit einen ängstlichen Blick nach dem dunklen
Gewölks. Eine Lampe in der Mitte des Saales
hängend erhellte den großen Raum nur spärlich,
während Lucia am Fenster in einer großen irdenen
Schale ein Feuer mit brennbaren Stoffen unter-
hielt, eine Art Leuchtfeuer, welches denen draußen
den Weg nach dem Schlosse weisen sollte, vor
Allen natürlich ihrem Geliebten, den ihre Angst
bereits einem Unfall erlegen glaubte, oder der
jeden Augenblick in einen der entfesselten Wild-
bäche stürzen konnte.
Der Hellffanunende Blitz, der durch die Fenster
hereinleuchtete, zeichnete tausend phantastische Schat-
ten auf die Wand, und nur die ungeheure Span-
nung, in welcher die Unruhe alle Sinne des
Mädchens erhielt, machte es möglich, daß sie ihre
Stellung so lange behauptete. Endlich aber ganz
erschöpft, ließ sie sich in einen Stuhl sinken und
winkte einem Dienstmädchen, das Feuer weiter
zu unterhalten.
Kaum waren einige Minuten verstrichen, so stieß
dieses einen Schrei aus. In dem grellen Scheine
eines Blitzes hatte sie den Grafen Enrico er-
blickt, und Lucia stürzte alsbald an's Fenster, um
durch Nacht und Finsterniß Denjenigen zu er-
spähen, dem sie mit namenloser Ungeduld eut-
gegenharrte. Ein Ausruf des Glückes entrang sich
ihrer gepreßten Brust, aber bald bemächtigte sich
ihrer wieder eine unaussprechliche Bangigkeit, sie
sank auf den Stuhl und stotterte die Worte:
„Himmel, ich danke Dir! ... er ist gerettet....
aber warum kommt er allein?"
Sie hatte ihr Angesicht mit den Händen be-
deckt, welche sie bald sanft zurückgezogen fühlte,
und als sie die Augen aufschlug, sah sie Den-
jenigen vor sich stehen, der ihr theurer als das
Leben war. In demselben Augenblicke war alles
Erlittene vergessen und sie sank mit Freudenthräuen
in seine Arme.
Enrico drückte sie zärtlich an sein Herz, strich
die Locken aus ihrer schönen Stirne und betrach-
tete liebevoll die blassen, leidenden Züge, welche
ihm deutlich den Umfang und die Tiefe ihrer
Neigung kundgabcn. Als aber Enrico seinen
Arm zurückzog, hatte dieser aus ihrem weißen
Gewände einen Blutflecken hinterlassen. Bei die-
sem Anblick flüchtete Lucia entsetzt aus seinen
Armen, eisige Kälte schnitt wie die Schärfe eines
Stahles in ihr Herz und bebend rief sie: „Blut!

Woher kommt dieses Blut?" — Enrico lächelte
und konnte sich die heftige Bewegung seiner Braut
nicht anders erklären, als daß sie ihn verwundet
fürchtete. „Es ist nichts als eine Hautritze," ant-
wortete er begütigend, „die ich mir zuzog, als ich
den kürzeren, jetzt aber sehr schlüpfrigen Pfad zum
Schlosse eiuschlug und mich an den Dornsträuchen
festhalten mußte. Es ist nichts, sieh' selbst!" —
Und er zeigte einen Riß im Aecmel seines Rockes.
„Du willst mich täuschen," rief Lucia zitternd;
„das ist es nicht, was ich wissen wollte; wo ist
Dein Vetter? sprich! sprich! Ich beschwöre Dich,
wo ist Julius?" Und sie blickte ihn fest an,
gleichsam um die Gedanken in seiner Seele zu
lesen.
Der Graf wurde vor Erstaunen ganz ver-
legen, denn er begriff nichts von den Vermuthungen
seiner Braut, welche ihrerseits den Grund seiner
Verlegenheit mißkannte, sich ihm zu Füßen warf
und in der höchsten Bewegung des Schreckens
mit emporgehobenen Händen flehte: „O überlaste
mich nicht so lange diesem Zweifel, der mein
Herz zermalmt!"
Enrico hob sie empor, erzählte ihr, wie er
mit seinem Vetter auf dessen ausdrückliches Ver-
langen eine Wette habe eingehen müssen, wobei
dieser eine Probe seiner besonderen Gewandtheit
ablegen wollte, und fuhr dann fort: „Ohne Zwei-
fel hat er vor der Wuth dcs Sturmes Schutz
suchen müssen, und diesen leicht in einer der vie-
len hohlen Vertiefungen des Gebirgspasses ge-
funden. Geliebte, laß doch auf Deinen Lippen
wieder das Lächeln erblühen. Du weißt nun
Alles, was geschehen, und siehst wohl, daß nicht
der geringste Grund zu solcher Aufregung vorhan-
den ist."
Bei diesen Worten drückte er einen Kuß aus
die kalte Stirne Lucia's, welche seiner Mitthei-
lung Glauben schenkte und sich nach und nach
von ihrem Entsetzen erholte; die Heiterkeit er-
leuchtete wieder ihre Seele, und das Glück, Enrico
wieder vor sich zu sehen, ließ die Rosen auf ihren
Wangen erblühen.
Aber es dauerte nicht lange, so wurde die
Thüre des Saales rasch aufgerissen und herein
stürzte Lucia's Mädchen, welches bei Enrico's An-
kunft sortgeeilt war, dem Marchese die glückliche
Heimkehr seines Sohnes zu melden. Jetzt erschien
sie blaß, zitternd, keines Wortes mächtig und stot-
terte endlich: „Er ist ermordet!"
„Wer?" fragten die Beiden.
„Baron Julius!"
Lucia hörte uicht weiter und sank auf den
Marmorboden hin, als ob mit einem Male alles
Leben aus ihr gewichen. Der Graf stand wie
vom Blitze getroffen. Allmählig ließen sich Schritte
vernehmen, vier Diener, von allen Bewohnern
des Schlosses gefolgt, trugen auf einer Tragbahre
den noch blutenden Leichnam Julius' herein, hin-
ter ihnen kam ein Geleite von Sbirren mit bren-
nenden Fackeln und zum Schluffe der Marchese.
Wie hatten sich die Züge des alten Mannes ver-
ändert! Seine Blässe war schrecklicher anzusehen,
als die des Todten, der mit starren glasigen
Angen vor ihm lag.
Der traurige Zug hielt, und mit eiuer Stimme,
welche aus dem Grabe herauf zn tönen schien,
befahl der Marchese: „Man schließe alle Ausgänge
des Schlosses, damit sich Niemand daraus ent-
ferne. Ihr Diener der Gerechtigkeit tretet herbei!"
- Enrico bebte, ohne sich seine Angst erklären
zu können. Er eilte auf seinen Vater zu, um
diesen über das Vorgefallene zu befragen, und
wollte seine Hand erfassen, aber der Marchese
stieß ihn zurück und warf ihm einen fürchterlichen
Blick zu.
„Was soll dies Alles beißen, mein Vater?"
„Nenne mich nicht mehr mit diesem Namen,
entarteter Sohn eines edlen Geschlechts — nenne
mich nie mehr so, verworfener Mörder!"

Dieses Wort machte Eurico erstarren, und un-
fähig, einen Laut hervorzubringen, zeigten seine
Geberden doch deutlich, daß er eine Erklärung dieser
eben so fürchterlichen als entehrenden Beschul-
digung erwarte.
Der Marchese nahm das Wort: „Hast Du
nicht heute dieses Schloß in Begleitung Desjeni-
gen verlassen, welcher hier in seinem Blute vor
Dir liegt?"
Enrico nickte zum Zeichen der Bejahung.
„Man bringe die Waffe herbei."
Ein Diener überreichte dem Marchese eine
englische Doppelflinte.
„Gehört dieses Gewehr uicht Dir?"
Enrico nickte wieder.
„Dann weiß ich, ob auch mein Herz bricht,
meine Pflicht zn thun. Wisse, Unglückseliger, diese
Flinte wurde an der Seite der Le che gefunden."
„Ich hatte sie abgeschossen, ehe ich den steilen
Bergpfad zu besteigen anfing; als ich auf diesem
ausglitt und mich an einem Busche mühsam fest-
hielt, entfiel sie mir und stürzte in die zur Seite
hinlaufende Schlucht, wohin ich bei meiner Rück-
kehr in's Schloß einen Diener schicken und sie
holen lassen wollte," — so entgegnete lebhaft
der Graf.
„Elende Ausflucht!" antwortete der Marchese;
„zeigt die Leiche nicht die frischen Spuren eines
Schusses durch ein Feuergewehr? Füge nicht noch
die Lüge zum Morde. — Warum auch länger
über das Unzweifelhafte verhandeln? Nehmt ihn
gefangen und führt ihn fort. In meiner Eigen-
schaft als Richter dieses Bezirks klage ich den
Grafen Enrico Pellizani als der Tödtung seines
Vetters schuldig an."
Lucia, welche während dieser Vorgänge wieder
zum Bewußtsein gekommen war, stürzte bei diesen
fürchterlichen Worten dem Marchese zu. Füßen und
rief: „Nein, nein, es ist unmöglich! Nehmen Sie
die gräßliche Beschuldigung zurück!"
Aber dieses Flehen war vergeblich; der Zwang,
den ein Vaterherz sich auferlegt hatte, erschöpfte
die Körperkrast, und Derjenige, der ein zweiter
Brutus die Stimme der Natur in seinem Busen
erstickt, lag in dem Augenblick, als Lucia ihn an-
flehte, bewußtlos in den Armen seiner Unterge-
benen, während die Diener der Gerechtigkeit den
jungen Grafen in ihre Mitte nahmen und ihn
aus dem Saale führten, in welchem diese Scene
der Angst und des Schreckens vor sich gegangen
war.
4.
Sondrio, der Hauptort des Veltlin, ist an
nnd für sich nicht schön gebaut, aber ungemein
romantisch gelegen, theils in einer Ebene, theils
an den Seiten eines Felsen am Ende eines kleinen
Thales. Von einer Anhöhe, die den ganzen Ort
beherrscht, blicken die denkwürdigen Reste des oft
belagerten Schlosses Masegra, ein historischer Punkt
in allen Revolutionen und Kriegen dieses Landes.
Das geschäftige Treiben der Bewohner, die ma-
lerischen Weinpflanzungen rings umher, der Aus-
blick auf den Malengo gewähren ein anziehendes
Bild für den ruhigeu Beschauer.
Das war nun freilich Lucia nicht, denn im
Palaste des ehemaligen Vrkarius war das Schwur-
gericht versammelt, um über Leben und Tod eines
Mannes zu entscheiden, und ihr geängstigtes Herz
pochte in mächtigen Schlägen. Neugierig und dicht
geschaart drängte sich im Gerichtssaale die Menge,
um das Loos Enrico's, Grafen von Pellizani, zn
erfahren. Lucia hatte wegen ihres Ranges und
den besonderen Beziehungen zu der Familie dcs
Angeklagten die Ertaubniß erhalten, sich in einem
Gemache neben dem Versammlungs-Zimmer der
Jury aufhalteu zu dürfeu, und lauschte athemlos
jedem Worte, das aus dem Saale herüberlönte.
Inzwischen hatte sie von einigen Herren, die das
Tribunal verließen, vernommen, wie unbestimmt
 
Annotationen