Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift des Bayerischen Kunstgewerbe-Vereins zu München: Monatshefte für d. gesammte dekorative Kunst — 1896

DOI Heft:
Heft 1
DOI Artikel:
Jessen, Peter: Wohin treiben wir?
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7909#0017

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
X

das Material als solches am reinsten - zur Geltung. Den
Reiz schöner pölzer, die satten Töne einer schlichten Thon-
vase, den weichen Glanz gut gefärbten Leders empfinden
nur Wenige aus der Masse. Auch hier können Vorbild
und Belehrung Vieles thun.

Allein auch wenn wir allmählich lernen, die Zierformen
weiser zu benutzen, so bedarf doch auch unser Formenkreis
als solcher frischen Blutes. Mit Ausnahme der ewig
Alten find wir wohl einig darin, daß wir versuchen
müssen, der Natur neue Leiten abzugewinnen, Pier ist
uns noch einmal in der japanischen Aunst ein frischer
Zug von Anregung entgegengetreten. Die Engländer

nicht nur in den Salons, sondern auch in den Ateliers
und Werkstätten finden und die Zeit nicht fern fein, wo
der Schnitzer, der Goldschmied, der Zeichner aus ihrem
Arbeitstisch nicht mehr ein schmutziges Blatt Papier aus
dem „Formenschatz", sondern einen frischen Zweig, eine
Blume oder eine Anospe vor sich sehen.

Wie zur Pflanze, so müssen wir auch zur menschlichen
Figur uns anders stellen. Zwar der Landsknechte und
der Gretchenkleider sind wir bald satt geworden. Aber
daß eine „decorative" Figur nicht künstlich verschoben und
verschroben zu fein, brauche, nicht überschlank wie in der
Spätrenaissance oder quellend fett wie bei Boucher, das

haben diese Anregung verstanden; was sie mit gesundem
Blicke aus ihrer Blumenwelt zum Flächenmuster ver-
wendet haben, ist neu, eigenartig und reif; mehr können
wir von der Aunst unserer Zeit nicht erwarten. Das
energische Naturstudium, aus dem ihre Erfindungen be-
ruhen, wird auch uns zu etwas Eigenem führen, wenn
wir die Natur mit unseren Augen, nicht mit denen der
Engländer ansehen. Wolle wir nebenher versuchen, die
Pflanze auch durch anatomische Studien uns noch mehr
zu eigen zu machen, so wird das nicht schaden, wofern
nur die unbefangene, künstlerische Erfassung die Haupt-
sache bleibt und nicht durch Gelehrsamkeit getrübt wird.
Die Blumenzucht und die Blumenfreude nehmen zum
Glück auch in Deutschland stetig zu; möchten wir sie bald

X_

geht uns nur langsam ein. Gute Wirkung im Raum
und in die Ferne, worin doch allein das Decorative be-
steht, kann auch die clafsisch ruhige Gestalt erzielen; das
sehen wir eben den Engländern ab. Das ist eine ersprieß-
liche Lehre, aber modern sind wir darum noch nicht.
Eine eigene Zierkunst haben wir erst dann, wenn wir —
in harter, langer Arbeit — uns selbst, unser eigen Fleisch
und Blut, unser Volk in allen seinen Ständen, wenn wir
all' unser Leid und all' unsere Lust in unsere tägliche Um-
gebung, in den Schmuck des pauses, in das, was wir
Aunstgewerbe nennen, einführen. Erst dann haben wir
eine Volkskunst, erst dann haben wir ein Aunstgewerbe
auf rechtem Grunde. Es ist ein weiter Weg bis dahin.
Wer kann uns führen?
 
Annotationen