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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 1.1922

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Riezler, Walter: Zum Geleit
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https://doi.org/10.11588/diglit.17995#0008

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DIE FORM / MONATSSCHRIFT FÜR GESTALTENDE ARBEIT

por in die Welt räumlichen Daseins. Wir kennen kein Leben, das nicht zur Form
drängte. Wo sich Leben seinerWesensart nach sondert, tut es dies, indem es Formen
schafft. In der Form behauptet sich ein Leben gegen das andere; aus dem bis zurVer-
nichtung führenden Kampf der ihrer Eigengesetzlichkeit nachlebenden Formen
gegeneinander entsteht die Unübersehbarkeitund Unauflösbarkeit der Welt. — Und
nicht nur alles organische Leben hat sein Ziel in der Form: wunderbarerweise geht
das gleiche Streben durch die unbelebte Materie überall da, wo es Bewegung gibt, und
beseelt das All, verleiht den Linien der Landschaft, dem ewig wechselnden Spiel der
Meereswogen lebendigsten Ausdruck.
Nicht imWiderspruch zu der unendlich en Welt der natürlichen Formen steht das
Reich der menschlichen Kunst. Sie ist die letzte Erfüllung des Formtriebes, der durch
die Welt geht. Auch die menschliche Natur muß sich wie die der Pflanzen und Tiere
in F ormen äußern, die unmittelbarer Ausdruck dieserNatur sindund sich nur dadurch
von den Formen der Natur unterscheiden, daß sie dem einzigen Wesen entstammen,
in dessen Geiste sich die übrige Welt spiegelt, und dessen Sehnsucht darauf gerichtet
ist, den ewigen Kampf der Natur in Harmonien aufzulösen und so das Bild der Welt
zu vollenden.
Von diesem Standpunkt aus ist es unmöglich, die Welt der Form als eine Welt des
Scheines und der Täuschung derWelt der Wahrheit gegenüber zu stellen. Sogesehen
ist vielmehr Form höchste Wahrheit. Keinem Menschen wesen ist ein tieferer Blick in
die Welt verliehen als der ist, der ihm die Formen derWelt klärt und offenbart, — es
sei denn der eine, den der schaffende Künstler zu tun vermag, indem er mit den For-
men seiner eigenen Kunst die Welt neu deutet. Das Bild derWelt, das der Künstler
entwirft, enthält nicht weniger Züge höchster Wahrheit und W eisheit wie die Systeme
der Wissenschaften und Philosophien.
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