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Heidelberger Bürger-Zeitung: Mittelstands-Zeitung ; unabhängiges Kampfblatt für die Interessen des deutschen Mittelstandes: Heidelberger Bürger-Zeitung: Mittelstands-Zeitung ; unabhängiges Kampfblatt für die Interessen des deutschen Mittelstandes — 1930

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Nr.

Sonntag, 16. März.

Jahrgang 1930

Herausgeber:
Curt Kieshauer
Fernruf 18NÄ

Gegen die Herrschaft der
Minderwertigen.
Kür deutsche und europäische Neuordnung.

SNmMW MM-WlW
Bezugspreis monatlich 0,60 Reichsmark. Bei Postbezug
vierteljährlich 2,10 Reichsmark. Für ausgefallene Nummern
wird kein Ersatz geleistet. Der Jnsertwnspreis lst 10 Rerchs-
pfennia für die achtgespaltene Millimeterzelle oder deren
Raum. Reklamen 0,40 RM. pro mm-Zeüe.

Entartung -er Llnterstühungspolitik
Von Professor Gustav Cassel, Schweden.

Einz-lM-is IS P!g.
Bürger-Zeitung
Mittelstands-Zeitung
!li«dhü«igtt K«!>sti«ii liir Sie Isinesie« des SeUsA» MletziMes
MMWlM-MAWe WW»S
Zeitung für gesunde Wirtschaftsinteressen des gewerblichen
Mittelstandes, des Handwerks, Handels, Haus- und Grund¬
besitzes, der Landwirtschaft, freien Berufe und aller sich zum
Mittelstand Rechnenden Kopf- und Handarbeiter.

Die Nivellierung des Geistes must, io wie
sie in Deutschland betrieben wird, zu einer gei-
stigen Proletarisierung des gesamten Voiles
fuhren. Nachdem die Sozialisierung der Wirt-
schaft nicht gelungen ist, soll die Sozialisie-
rung des Menschen und des Geistes betrieben
werden. Zu ihr führen soll zunächst die Be-
nutzung. der Zahl -mit Hilfe des allein die
Zahl, nicht aber die geistige Einzelbedevtung
erfassenden politischen Systems der Massen-
demokratie „deutscher" Art), vor allem aber
die allmähliche geistige Vernebelung mit allen
ihren Sondererscheinungen. Diese Herrschaft
der Zahl über den Geist und der Masse über
die Individualität müst im Laufe der Zeit
«die Herrschaft der Minderwertigen" herbei-
führen.
In diese Zusammenhänge hineinzuleuchten
und die von allen Seiten als notkvend'ig em-
pfundene Klärung des Gegenwartsgeschehens
in seinen Beziehungen zur Neuordnung des
Verhältnisses von Weltanschauung und Poli-
tik, von Idee und Wirklichkeit vorzunehmen,
versucht — in dieser Eesamteinstellung und
Gesamtauffassung wohl zum erstenmal - ein
Neu erschienenes Werk. Edgar I. Jung glaubt
in seinem Buch „Die Herrschaft der Minder-
wertigen, ihr Zerfall und ihre Ablösung durch
ein neues Reich," das soeben in zweiter, völlig
umgearbeiteter Auflage im Verlags der
„Deutschen Rundschau" erschienen ist, den Aus-
gangspunkt gewonnen zu haben, der zum An-
satz neuer Gestaltung werden kann. Jung
sucht in einer umfassenden Schau, den gegen-
wärtigen Zustand unseres politischen Lebens
im weitesten Sinne — der auch die Gebiete
von Gesellschaft und Recht, Kultur und Wirt-
schaft, Austenpolitik und Bevölkerungspolitik
umfaßt — zu analysieren und, da diese Ana-
lyse vernichtend ausfüllt, neue Grundlagen po-
litischen Lebens zu legen. In seinem Werk
Mischt sich in höchst eigentümlicher Weise der
Staatsphilosoph mit dem praktischen Politiker
und dessen tätiger Leidenschaft und durchdrin-
gender Nüchternheit. Das statsphilosophische
Element tritt besonders in dieser zweiten Auf-
lage deutlicher hervor, ohne dein Werk die
aktive Zielsetzung der ersten zu nehmen: es
gibt ihm im Gegenteil sogar besondere Be-
weglichkeit seiner Standpunkte bei einheit-
licher Grundgesinnung.
Das Werk ist gleichzeitig peinlich nüchtern
und von einer fast vermessenen Kühnheit und
Phantasie: es lässt unsere augenblicklichenNöte
zwar nichts von ihrer Bedeutung und Schärfe
verlieren, lässt sie aber in richtiger Perspek-
tive zu höheren Gegebenheiten erscheinen.
Hieraus erwächst der grundsätzliche Radikalis-
inus des Werkes. Wer als Arzt die richtige
Diagnose für eine Krankheit zu haben glaubt,
kann in ihrer Bekämpfung gar nicht anders
als radikal vorgehen. Alles Gerede gegen Ra-
dikalismus, das die meisten unserer Zeitungen
füllt, ist im Grund Verlegenheitsgestammel
solcher, die keine Diagnose haben. Bei einer
derartigen Einstellung zeichnen sich ganz neue
Probleme und Fragestellungen für unser poli-
tisches Leben ab: im gleichen Maste verlieren
solche, die unser augenblickliches Dasein weit-
gehend beherrschen, ihre angebliche Wichtig-
keit. Zum Beispiel hat der Gegensatz von
rechts und links im heutigen Sinne für dieses
Werk keine ausschlaagebendeBedeutüng: beide
Richtungen werden als Ausstrahlungen des
gleichen seelischen Zustandes erkannt, dessen er-
bitterter Bekämpfung das Werk dient. Zwar
gibt es wohl kaum eine Frage der aktuellen
Politik, die nicht von Jung eingehend behan-

delt würde: aber der Zusammenhang, in dem
sie erscheint, die Grundlage, von der aus sie
betrachtet und zu lösen versucht wird, läßt völ-
lig neue Gruppierungen aufdämmern, die
„einen Rist quer durch alle Parteien ziehen,
ja vielleicht durch die Kulturvölker."
Der Sinn des weltanschaulich-religiösen
Inhalts des Buches besteht in seinem meta-
physischen Eanzheitsstreben. Von hier aus er-
hält der Begriff der „Minderwertigkeit" seine
Erklärung. Es handelt sich dabei nicht um
den biologischen oder rassischen Minderwertig-
keitsbegriff (der freilich in einer schwer zu de-
finierenden Beziehung dazu steht), auch nicht
um charakterliche Defekte individueller Art
(obwohl auch diese nicht gänzlich unabhängig
davon bestehen). Aber diese Leiden Begriffe
der Minderwertigkeit sind schwankend und von
subjektiven Voraussetzungen nicht zu trennen.
Jung aber geht es darum, den objektiv-gesell-
schaftlichen Maststab der Wertigkeit zu finden:
er sieht ihn in dem Kriterium gegeben, ob der
Mensch als Mikrokosmos seine metaphysische
Stellung innerhalb des Makrokosmos (und
seiner Spiegelung im Sozialen) erfüllt, oder
ob er Teilzwecken nachstrebt, die im Wider-
spruch zu dieser Bestimmung stehen. Hierdurch
wird das Werk herausgehoben aus der persön-
lichen Gehässigkeit des üblichen politischen
Kampfes, es überlässt dis Entscheidung über
die letzten individuellen Qualitäten des ein-
zelnen der Religion.
Die Einzelheiten sowohl der Kritik als der
Aufbauvorschlüge können in ihrer Fülle natür-
lich hier nicht geschildert werden. Als großes
Ergebnis aber ist herauszustellen, daß hier
nicht weniger versucht wird als eine General-
abrechnung mit Liberalismus und der Gleich-
heitsdemokratie. Die Entwicklung dieses, seit
dem Ausgang des Mittelalters hervortreten-
den Dsnkstiles wird hier aufgezeigt, er selbst
in allen seinen Manifestationen zergliedert,
bis in seine letzten Schlupfwinkel, Masken und
Larven erfolgt). Mit unerbittliches Schürfe
weist Jung nach, daß das Ergebnis der vier-
hundertjährigen Herrschaft des Individualis-
mus kein anderes sein könne als das, was wir
heute als die Anarchie und Selbstzerfleischung
Europas), als den „Untergang des Abend-
landes" erleben.
Es gibt eine Anschauung, die heute wei-
teste Kreise — auch der Gelehrten und Philo-
sophen — beherrscht: die Anschauung, die in
dem „Zeitgeist" eins oberste Gegebenheit er-
blickt. Die Zustände unserer Gegenwart wer-
den als Ausflüsse dieses Zeitgeistes in fata-
listischer Demut hingenommen, als höhere
Notwendigkeit verehrt. Die „Philosophie des
Zeitgeistes" ist aber — um einen Kantischen
Ausdruck zu gebrauchen — die „faule Philo-
sophie" unserer Zeit: sie entnervt jedes Stre-
ben, das auf lebendige Ueberwindung der er-
kannten Schwachen und Mißstände unserer
Zeit ausqeht. So ist sie „reaktionär" in einem
viel gefährlicheren Sinne, als es die ausster-
benden Grüppchen derer sind, welche die Ent-
wicklung verschlafen haben. Der große Kampf
unserer Zeit wird entbrennen zwischen dieser
„Reaktion", zü der heute vorwiegend die herr-
schenden politischen Parteien gehören, und den
vordrängenden Kräften einer nach neuen We-
gen suchenden Jugend, für die Edgar Jung
im vorliegenden Werk die geistige Unterlage,
das zielweisende Programm, die politische
Idee geliefert hat.


Die öffentliche Untsrstützungspolitik, die be-
sonders nach dem Kriege in verschiedenen Län-
dern einen immer stärker beunruhigenden Um-
fang angenommen hat, bildet ein erhebliches
Gefahrenmoment, da diese Politik geeignet er-
scheint, in Willkürlicher Weise die wirtschaft-
liche Gesellschaftsordnung zu stören, die auf
der Selbstverantwortung des Einzelnen aufge-
baut ist. Diese ganze Gesellschaftsordnung ist
wesentlich von der freien Preisbildung abhän-
gig, die nicht nur die Preise der Produkte be-
stimmt und damit die nötge Haushaltung mit
ihnen erzwingt, sondern auch den Entgelt der
besonderen Produktivkräfte und damit deren
Verteilung auf die verschiedenen Wirtschafts-
zweige feststellt. In einen so komplizierten
Mechanismus kann man nicht nach Belieben
eingreifen. Will man die sehr wertvollen
Früchte unserer Wirtschaftsordnung genießen,
muß man diese nach ihren eigenen Gesetzen
arbeiten lassen.
In unseren Tagen scheint keine der politi-
schen Parteien dies zu verstehen. Die Sozia-
listen wollen allerdings den bestehenden Preis-
bildungsprozeß gründlich abändern, um unter
anderem das Kapital den Entgelts für seine
Mitwirkung in der Produktion zu berauben
Die bürgerlichen Parteien bekämpfen wohl
einen solchen Sozialismus, schwächen aber in
bedenklichster Weise ihren Standpunkt, da sie
selbst die Preisbildung als ein geeignetes Feld
für ihre politische Wirksamkeit betrachten. Sie
suchen das Kapital und anders Produktivkräfte
ihren eigenen willkürlich gewählten Zwecken
anzupassen und wollen oft verhindern, daß
tiefgehende Veränderungen in der Weltwirt-
schaft oder in den wirtschaftliichenVerhältnissen
des einzelnen Landes zu ihrem natürlichen
Ausdruck in der Preisbildung kommen.
Was zum Beschreiten dieses gefährlichen
und abschüssigen Weges geführt hat, ist vor
ollem eine fehlerhafte Ueberspannung des na-
türlichen Bestrebens, Hilfe zu bringen, wo
wirkliche Not norliegt. Solche Hilfe must nach
der Natur der Sache jedoch einzelnen Personen
geleistet werden. Auch dann ist die Hilfsge-
währunq nicht ohne Gefahr: sie kann nicht be-
absichtigte Verschiebungen in der Volkswirt-
schaft veranlassen und die Gewährung kann
leicht von Gesichtspunkten anderer Art abhän-
gig gemacht werden. Der für den AugWiblick
wichtigste Fäll in die öffentliche Unterstützung
von Arbeitslosen, die anfangs als eine rein
humanitäre Hilfe gegenüber notleidenden Ein-
zelmenschen gedacht war, in ihrem jetzigen Um-
fang aber leicht als Stütze für eine monopo-
listische Lohnbildung wirkt, die u. a. den Un-
terschied zwilchen Industriearbeitern undLand-
wrrtschaftsarbeitern künstlich verschärft. Gleich-
zeitig wird durch diese Unterstützungspolitik
die für eine gesunde Wirtschaft wichtige Be-
weglichkeit der Arbeitskraft vermindert, u. es
werden Arbeiter in Berufen oder in Orten be-
halten, in denen sine lohnende Beschäftigung
nicht gefunden werden kann. Durch die Ent-
wicklung, die die Arbeitslosenunterstützung
nach dem Kriege in gewissen Ländern genom-
men hak, hat sie eine sehr störende Wirkung
auf den Mechanismus der Preisbildung aus-
geübt, indem sie die natürliche Bremse gegen-
über den Lohnansprüchen gehemmt hat, die
auch im Interesse der Arbeiter selbst (volle
Beschäftigung) wirksam ist. Die radikalen
Fürsprecher einer unbegrenzten Arbeitslosen-
unterstützung haben niemals klarmachen kön-
nen, wie der Mechanismus der Preisbildung
ohne einen natürlichen Regulator soll arbeiten
können. s
Noch größere Gefahren drohen, wenn die
Unterstützungspolitik von einer Unterstützung
von Menschen zu einer Unterstützung von ver-
schiedenen Erwerbszweigen übergeht. Es liegt

ein Eedankenfehler vor, wenn man sich vor-
stellt, daß beide Methoden der Hilfeleistung
einander gleichgestellt Werden können. Für
die menschliche Gesellschaft kann es sich als er-
forderlich erweisen, notleidenden Mitgliedern
zu helfen. Dagegen ist es für die Gesellschaft
im Prinzip gleichgültig, ob ihre Mitglieder in
dem einen oder in dem anderen Erwerbszweig
ihren Unterhalt finden. Jedenfalls dürfte es
für die öffentlichen Organe zweckmäßig sein,
davon auszugehen, daß diejenigen Erwerbs-
zweige die besten sind, die ohne Subvention be-
stehen können. Wenn die Politiker eingreifen,
um notleidenden Erwerbszweigen zu helfen,
ist die Gefahr für das Wohl und Wehe der ge-
samten Volkswirtschaft immer sehr groß.
Dies wird noch deutlicher, wenn die Unter-
stützungspolitik sich auf die Förderung einzel-
ner spezieller Produktionszweige einstellt. Eine
Unterstützung der Weizenproduktion zum Bei-
spiel, kann ja, in welcher Form sie auch geführt
wird, nur die Wirkung haben, daß eine wirt-
schaftlich notivenoige Verminderung der Wei-
zenproduktion verhindert wird, und daß also
eine unrichtige Verteilung der Produktivkräfte
gegenüber den. verschiedenen Aufgaben inner-
halb der Landwirtschaft aufrechterhaltsn wird.
Dabei ist es von untergeordneter Bedeu-
tung, welcher Mittel das öffentliche Eingrei-
fen sich bedient. Der wesentliche Fehler liegt
darin, daß man in der einen oder der anderen
Weise eine unwirtschaftliche Verwendung der
Produktivkräfte der Gesellschaft herbeiführr.
Dies wird vor allem von gewissen „Freihänd-
lern" übersehen, die sich lediglich gegen den
Protektionismus in der Form der Schutzzoll-
politik wenden, aber bereitwillig eine Reihe
anderer staatlicher Unterstützungsformen für
die verschiedensten Zwecke in Anspruch nehmen.
Tast diese Auffassung unhaltbar ist, sollte sehr
schnell einleuchten, wenn man bedenk:, daß
jedes Kapital, das der Staat in irgend einer
Weise der Wirtschaft zur Verfügung stellt,
irgendwo hergenommen werden must. Der
Staat kann deshalb dasKäpital nur non einem
Beschäftigungszweig in einen anderen über-
führen und kann damit im allgemeinen nur
eine verschlechterte Verwendung des gesamten
gesellschaftlichen Kapitals herbeiführen.
Der Kainpf gegen den Protektionismus
wurde bisher auf viel zu schmaler Front ge-
führt. Wenn die Schutzzollpolitik überhaupt
schädlich ist, so ist sie schädlich aus denselben
Gründen wie jede fehlgedachte Unterstützungs-
politik. Der Kampf gegen den Protektionis-
mus must deshalb zu einem allgemeinenKampf
gegen jeden willkürlichen Eingriff in die nor-
male Preisbildung und gegen jede Unterstüt-
zung besonderer Produktionszweige erweitert
werden.
Ein prinzipieller Unterschied zwischen sozial-
politischer und wirtschaftspolitischer Unterstüt-
zung besteht nicht, und eine bestimmte Grenze
zwischen solchen Maßnahmen ist auch in der
Praxis schwer aufrechtzuerhalten. Wenn zum
Beispiel der Staat einmal die Verantwortung
für die Arbeitslosen auf sich genommen hat,
so ist es ganz natürlich, daß man die Ansprüche
auf die Staatskasse durch Schaffung von Be-
schäftigung zu vermindern sucht und daß man
zu diesem Zweck protektionistische Maßnahmen
aller Art in Anwendung bringt. Der ver-
schärfte Protektionismus der Nachkriegszeit,
der mit seinen hohen Schutzzöllen, seiner Be-
vorzugung heimischer Lieferanten, seinen Ausq
fuhrprämien usw. eine günstigere Entwicklung
der Weltwirtschaft wesentlich erschwert, steht
in der Tat in einem unauflöslichen Zusammen-
hang mit der öffentlichen Arbeitslosenunter-
stützung.
Es ist ein eigentümlicher Zug der wirt-
schaftlichen Anterstützungspolitik des Staates,
 
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