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Heidelberger Bürger-Zeitung: Mittelstands-Zeitung ; unabhängiges Kampfblatt für die Interessen des deutschen Mittelstandes: Heidelberger Bürger-Zeitung: Mittelstands-Zeitung ; unabhängiges Kampfblatt für die Interessen des deutschen Mittelstandes — 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.42441#0227
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Mittelstands-Zeitung

UMWgigtt K«psdlitt stt die Iiieressei dcs deils-e« Miticistiides

«MMlerW-mrWWe M»g
Zeitung für gesunde Wirtschaftsintercssen des gewerblichen
Mittelstandes, des Handwerks, Handels, Haus- und Grund-
besitzes, der Landwirtschaft, freien Berufe und aller sich zum
Mittelstand rechnenden Kopf- und Handarbeiter,

Geschäftsstelle:
Heidelberg, Hauptstraße 10«

SMOeiW MM-WW
Bezugspreis monatlich 0,60 Reichsmark. Bei Postbezug
vierteljährlich 2,l0 Reichsmark. Für ausgefallene Nummern
wird kein Ersatz geleistet. Der Jnsertionspreis ist 10 Reichs-
pfennig für die achtgcspaltene Millimeterzeile oder deren
Raum. Reklamen 0,40 RM. pro mm-Zeile.

Jahrgang 1930



Gonniag, September

Nr. 36

voll oder Versüssung?

Das Mysterium des deutschen Reiches, ein Gedenkblatt.

Von Ludwig H. Schmidts.

„Die Bürokratie ist beseitigt", verkündigte
18. November 1918 der Rat der Volksbe-
^uftragten. „Alle Macht geht vom Volke aus",
^stimmte später die Reichsverfassung. Ein
verheißungsvoller Anfang. Nach Beseitigung
Dynastisch-bürokratischen Regimentes sollte das
^olk selbst, im Kriege unter unsäglichen
Opfern und' Entbehrungen geläutert, gereift,
bie Zügel in die Hand nehmen. Aus dem Tal
bes Jammers schien der Weg hinauf zu lichten
Höhen trotz widriger innerer und äußerer Ge-
nicke zu gehen. Aller Bürden schwerste, die un-
erträgliche Bevormundung des Volkes durch
e>Ne anmaßende Obrigkeit, war angeblich ab-
^rvorfen. Keine Versammlungsrede vor zehn
is zwölf Jahren konnte ohne vergleichende
Erwähnung Steinschen Reformwerkes, Stein-
en Jähzornes auf die knechtseligen Bura-
ststen vor derZuhörerschaft bestehen. — Längst
der beglückende Traum von innerer Frei-
^it, von der vom Volke ausgehenden Macht
eUsgeträumt. Ueber die wahren Herrscher
Deutschlands hüllen Presse, Politiker, Rund-
unk sich in tiefes Schweigen, lieber Deutfch-
bdd liegt ein Geheimnis.
-. Die alt-neue Knechtseligkeit des Volkes,
^Ne Stimme in Parlament, Partei, Presse
!^d Funk beugt sich alt-neuen Machthabern,
fster Einzelne im Volke, der Pressemann, poli-
nche Führer — sie alle besitzen nur den einen
^dzigen Ehrgeiz, teil an dieser Macht zu ha-
, d, sich persönlich auf ihren Lebtag versorgen
N lassen. Jede widerspenstige öffentliche
^sturme bringen allmächtige Beamtenorgani-
btionen zum Schweigen. Nicht allein politisch,
wirtschaftlich und gesellschaftlich geriet das
Ätsche Volk in Abhängigkeit von seinerBüro- !
^»tie. Dem beglückenden Traum der Freiheit
zehn, zwölf Jahren folgte der lawinen-
ochsende Albdruck heutigen Hellen Tages. Sa- I
>___

gen wir, wenigstens die Wahrheit dieser dop-
pelt düsteren Tage zu retten, was der Alb ist:
Last, Doppelzüngigkeit und Ver-
blendung derer, die sich Machthaber heute
nennen.
L a st. Es gibt in Deutschland 103 amtie-
rende Minister und 2384 Abgeordnete, ohne
Provinzial-, Kreis- und Stadtverordnete. Das
Reich hat 12 Minister und vor Reichstagsauf-
lösung 491 Abgeordnete neben 326 Mitglie-
dern des immer noch vorläufigen Reichswirt-
schaftsrates. In 17 verschiedenen Kabinetten
wurden innerhalb elf Jahre 76 Reichsminister
verschlissen. Sie alle, neben rund 400 Landes-
ministern, erfreuen sich hoher Pensionen und
einflußreicher Stellungen. Bei der Reichstags-
verabschiedung trat jüngst der Reichskanzler
Brüning mit 78 Ministerialbeamten auf die
Estrade. Folgt das Heer von hohen und niede-
ren Beamten, die lohne Reichsbahn und Post)
mit Pensionären dem Volke 3,5 Milliarden
kosten. Folgen die Scharen der Volkbeauftrag-
ten bis zum Gemeindevertreter, umgeben, be-
stürmt von Cliquen, Einfluß für bestimmte —
gewiß nicht allgemeine — Interessen geltend
zu machen.
Doppelzüngigkeit. Sie alle ver-
sprachen mit Gut- oder Böswillen des Volkes
Allgemeinwohl, versprachen insbesondereSpar-
samkeit. Doch stiegen insgesamt die Bewilli-
gungen von 16,5 Milliarden 1925 auf schät-
zungsweise 23 Milliarden im Jahre 1930.
„Zwangsläufigkeit" wurde zum entschuldigen-
den Schlagwort. Noch 1927 sprach der Finanz-
minister Dr. Köhler: Die Besoldungsreform
kann in Reich, Ländern und Gemeinden ohne
Steuererhöhung getragen werden. Wahlaufruf
aller Parteien 1928: Wir sind für Steuersen-
kungen. Doch frug im gleichen Jahre Minister

Severing: Was will der (Hanja-j Bund der
Steuerscheuen? Im Zusammenhang mit dem
Aoung-Plan große Steuersenkung (Regie-
rungserklärung vom 12. 12. 1929j. Zehn Tage
später lex Schacht mit 220 Millionen Reichs-
mark Steuererhöhungen auf Tabak. Am Syl-
vesternachmittag 1929 fehlten noch 50 Millio-
nen Reichsmark, die Beamtengehälter voll
auszuzahlen. Deutsche Banken hatten jeden
Kredit verweigert. Zur ewigen Schande
Deutschlands griff der Reparationsagent hilf-
reich ein. 1930: Moldenhauers unerschöpflicher
Optimismus, doch Diedrich willigt nur in
einen 100-Millionen-Abstrich ein. Das unver-
geßliche Schauspiel innerhalb der demokrati-
schen Partei Diedrich contra Fischer. Endeffekt:
900 Millionen Neubelaftung. Juli 1931: auch
diese Voranschläge sind bereits über den Hau-
fen geworfen. Am Verfassungstage 1930, ein
unübersehbares Finanzchaos. — Trotz aller
Zusagen der Parteien und Regierungen erhöh-
ten sich die Ausgaben innerhalb fünf Jahre
um 50 v. H.
Verblendung. Der Aberglaube
„Zwangsläufigkeit" führt zur Hölst. Lassen sich
denn nur Löhne und Warenpreise' nicht auch
Veamtengehälter senken? Hier liegt des Pu-
dels Kern. Nicht um des Volkes, um der Par-
tei willen werden alle Maßnahmen getroffen.
Nicht des deutschen Reiches, der Parteibestand
steht im Vordergründe. Die größten ministe-
riellen Versager werden immer wieder präsen-
tiert, die Behörden parteipolitisch korrumpiert.
In einem Prozeß gegen das preußische stati-
stische Landesamt wurde folgender Vorgesetz-
ten-Hinweis gerichtlich erhärtet: „Meine Her-
ren, so kommen Sie nie weiter. Ich will Ihnen
offen sagen, daß ich Werber der SPD. bin und
die Weisung habe, in akademisch gebildeten
Kreisen für die Partei zu- werben, da es uns

an solchen Herren mangelt. Treten Sie der
Partei bei, und Sie werden in spätestens
einem Jahre Landrat oder irgend etwas ähn-
liches sein." Solche „Beförderungen" sind bei
allen Parteien Brauch, in Thüringen wie in
Sachsen und Preußen. Unsere politischen Par-
teien lösen sich, allen Einigungsbestrebungen
der Mitte zum Trotz, in Erbsen-, Linsen-,
Bohnen- und'Interessengruppen auf. Wunder
nur, daß ein deutscher Minister das so spät,
nachdem der Dümmste im Volke es gemerkt,
feststellen zu müssen glaubte. Auf diesen Par-
teien, den ewigen Versagern, ruht keine Hoff-
nung mehr, weil ihre Programme und Män-
ner wohl eine Vergangenheit, doch keine Zu-
kunft haben. Programme und Männer sehen
auf die Stunde, nicht auf Geschlechter. Die Par-
teiaumaßung wurzelt garnicht im Volke. Be-
kennen wir doch ehrlich, daß wir Wähler im
Grunde alle parteilos sind, nur ein kleineres
llebel gewählt, nur ein persönliches, kein
Volksinteresse bisher wahrgenommen haben.
Allerdrngs würde eine solche Ehrlichkeit von
der routinierten Unehrlichkeit des Gegners
ausgenutzt werden. Noch gibt es in Deutsch-
land Männer genug, die das Vaterland über
jede Partei stellen. Das nicht täglich zu be-
kennen, darin liegt unsere schwere Mitschuld.
Es ruht ein Geheimnis über Deutschlands
wirklicher Verfassung, die im schroffsten Gegen-
satz zu der papicrnen steht. Es ruht ein Ge-
heimnis über Deutschlands systematischer Ver-
elendung. Die Wissenden schweigen. Das Volk
grollt und — schweigt. Diese Ruhe ist der
Rätsel größtes. Aber die Geschichte lehrt, daß
noch nie ein Volk schweigend sich zugrunde rich-
ten ließ. Es suchte ein Ende mit Schrecken,
um dem Schrecken ohne Ende zu entgehen.

Betrachtungen zur Reichstagswahl am 14. September'iSZO.

u Neichstagswahl! Fürwahr, ein Weckruf
i i das deutsche Volk müßte es wenigstens
Mer gchi Für viele Wähler ist es im
u^nde genommen eine Qual, denn bei der
/dingssg der Parteien wird der Wähler zuletzt
und gar konfus: er weiß nicht mehr, wel-
j r Partei er eigentlich seine Stimme geben
Immer neue Parteien erscheinen auf der
^"dfläche. Um die Parteinamen alle im Kopfe
s^.öaben, gehört heutzutage — man möchte
sagen — Hochschulstudium dazu. Wie ist
öa möglich, daß sich ein junger 20jähriger
bzw. Wähler, der kaum den ersten
^ies t ins öffentliche Leben getan hat, in
Wirrwarr zurecht finden soll und das
ergreift, begreift und erfaßt? Besser
Z^^es wohl, das Wahlalter würde auf das
TTi^ebensjahr heraufgesetzt, denn es ist doch
dy^che, daß ein Wähler von 20 Jahren, der
»bg Atemal zur Wahlurne schreitet, dies mehr
-Neugierde tut, als aus politischer Ueber-
Wird den Wählern bei den Wahlver-
!stb„,,^"gen alles versprochen — und was wird
8tej°?^n? Die Führer der Parteien — ganz
Welcher Richtung — dürften es wohl in
Listen Fällen selbst nicht glauben, alles
m zu können, was sie den Wählern in
au ^Versammlungen versprechen. Hier sei
^dings einmal öffentlich gesagt und an-

i die Führer der Reichspartei des Deut-
schen Mittelstandes (Wirtschaftspakt.)
haben bisher Wort gehalten, haben
standgehalten,
haben gerade gestanden und zu 75 Prozent das
vertreten und durchgedrückt, was sie ihren
Wählern versprochen haben. Ist es da nicht
Pflicht, diesen Führern Anerkennung zu zol-
len und durch rege Wahlbeteiligung diesen so-
zusagen das Rückgrat zu stärken, damit in Zu-
kunft die Wirtschaftspartei als eine achtung-
gebietende Macht, der jeder Vertrauen schen-
ken kann/dasteht. Die Führer der Wirtschafts-
partei mögen nur immer dec Worte eingedenk
sein:
„Gerade sei der Weg — fest sei das
Ziel!"
Handeln die Führer darnach, so werden sie an
der großen Zahl ihrer Wähler jederzeit einen
starken und festen Rückenhalt, haben und be-
halten.
Wirkt die jetzige Arbeits- und Erwerbs-
losigkeit nicht geradezu aufreibend und zermür-
bend, ist sie nicht schuld an der großen Zahl
der Lebensmüden?
Schafft Arbeit!
Laßt es einmal genug sein mit der Neuerrich-
tung von Jugendherbergen undJugcndheimen,

nehm! das erforderliche Geld und baut Woh-
nungen, tragt bei, hier einmal soziale und
hygienische Verhältnisse zu schaffen und zu för-
dern.
Schafft Arbeit! damit sich der Arbeiter, der
Angestellte wieder fre- machen kann von der
drückenden Last der Sorgen um seine Zukunft,
um seine Familie. Schafft Arbeit! auch für die
Jugendlichen, die ihre Lehrzeit beendet haben
und von da ab arbeits-, erwerbslos sind und
ihrem Vater oder Mutter, die oft selbst er-
werbslos. krank oder alt und gebrechlich sind,
auf der Tasche liegen. Schafft Arbeit für diese
Jugendlichen! — gebt ihnen Gelegenheit, Lohn
und Vror zu verdienen, damit sie
nickt das Rezept zur Arbeit verlieren.
Um die übergroße Zahl der Arbeitslosen
zu mindern, die Not zu lindern und vielen
dieser Bedauernswerten ein menschenwürdiges
Dasein"" zu schaffen, gibt es schon einige Mit-
tel, wenn nur die Regierung endlich einmal
ibr Machtwort erschallen ließe. Hierzu einige
Beispiele. Die Zahl der kaufmännischen An-
gestellten, die durch Abbau, Betriebseinschrän-
kung, Stillegung usw. erwerbslos geworden
sind, ist geradezu katastrophal und wird eher
noch schlimmer statt bester. Hilfsmaßnahmen
tun dringend not und liegen doch so nahe. Die
Reichs-Versicherungs-Anstalt für Angestellte ist
in der Lage, hier Hilfe zu leisten. Diese

Reichs-Versicherungs-Anstalt verfügte
Anfang 1930 über ein Vermögen von
1 Milliarde 300 Millionen RM, zu 5
Prozent. gerechnet 80 Millionen RM
jährliche Zinsen und steht nachweislich
bis 1980 bzw. 2000 auf festen Füßen
und ist allen an sie herantretenden
Forderungen u. Leistungen gewachsen.
Warum erhöht sie nun nicht die Rentenlcistun-
gen und hilft dadurch die Zahl der Erwerbs-
losen mindern? Die Rcichs-Verstcherungs-An-
stalt mag die Rentenleistungen erhöhen und
jedem 6Öjährigen Angestellten eine entspre-
chende. Halbwegs auskömmliche Rente zahlen,
wenn er seine Stellung aufgibt. Dadurch, daß
die 60jährigen Angestellten durch das Gesetz
gezwungen werden, ihre Stellung aufzugeben,
würde eine sehr große Zahl der jetzt Erwerbs-
losen Stellung und Verdienst finden. Nun
weiter. Wie wäre es, wenn die sogenannten
„Höheren Töchter" aus den Stellen, die sie jetzt
inne haben, verschwinden und dadurch ihren
erwerbslosen und darbenden Mitschwestern
Lohn und Brot verschaffen würden? Dies
wäre eine hochherzige Tat. die allgemeine An-
erkennung und Dank auslösen dürfte. Möchten
doch diese „Höheren Töchter" dies recht bald
einsehen und darnach handeln. Es ist doch
wohlbekannt und beruht auf Tatsachen, daß
 
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