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Heidelberger Bürger-Zeitung: Mittelstands-Zeitung ; unabhängiges Kampfblatt für die Interessen des deutschen Mittelstandes: Heidelberger Bürger-Zeitung: Mittelstands-Zeitung ; unabhängiges Kampfblatt für die Interessen des deutschen Mittelstandes — 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.42441#0129
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Sonntag, 8. Juni

Nr. 23

Jahrgang ^L93O
-

Heidelberger
Bürger-Zeitung
Mittelstands-Zeitung
UndhSiliilies KMsdIM sü die Jileresse» des dcichtei Nilleijilvides
UWMlerW-MWW Kitung „ »«MW MM-Mm
Zeitung für gesunde Wirtschaftsinteresscn des gewerblichen iNeskyastSstelle. Bezugspreis monatlrch 0,60 Reichsmark. Bei Postbezug
Mittelstandes, des Handwerks, Handels, Haus- und Grund-
besitzes. der Landwirtschaft, freien Berufe und aller sich zum Heidelberg, Hattptstrahe
Mittelstand rechnenden Kopf- und Handarbeiter.


Bezugspreis monatlich 0,60 Reichsmark. Bei Postbezug
vierteljährlich 2,l0 Reichsmark. Für ausgefallene Nummern
wird kein Ersatz geleistet. Der Jnsertlonspreis ist lO Reichs-
pfennig für die achtgcspaltene Millimeterzeile oder deren
Raum. Reklamen 0,40 RM. pro mm-Zeile.


en von


- Als die Menschen — so erzählt eine der
Möpschen Fabeln — zum ersten Male ein
5«mel erblickten, entsetzten sie sich über seine
,^ötze und ergriffen dis Flucht. Mit der Zeit
Merkten sie, Wie sanftmütig es war, und nun
sagten sie sich in seine Nähe. Wie sie nun
dahinter kamen, daß das Kamel keine
lalle hat, da ging aller Respekt zum Kuckuck:
legten dem Kamel Zügel an und ließen
dutch Knaben treiben. Aehnlich äußerte
der Aegypter Damiri (starb um 1400) in
^Nem „Tierleben": „Das Kamel ist ein wun-
^rsames Tier, von mächtigem Körperbau und
,ach außerordentlich gefügig: mit schwerer Last
Fladen, erhebt es sich aus Befehl und kniet
l'eder, eine Maus kann seinen Halfter fassen
Ad xg daran führen, wohin sie will." Diese
Anksamkeit hat sich natürlich der Mensch aus-
^ebig zu Nutze gemacht. In Arabien ist das
,amel seit Jahrtausenden das einzige Ver-
Arsmittel, das die Durchquerung der großen
Püstenstrecken ermöglicht. Selbst überaus an-
Eruchslos und geduldig — der Araber hat
An den vielsagenden Beinamen Abu Aijub,
h. Vater Hiobs, gegeben — trägt es nicht
Ar den Menschen und seine Habe auf seinem
Ucken, sondern liefert ihm auch in seiner
Polle den Rohstoff für die Kleidung und ver-
^ht ihn überdies mit Fleisch und Milch,
zweimal täglich wird die Kamelin gemolken,
'sorgens und abends, und die Kamelmilch ist
s'N Nahrungsmittel, das namentlich in der
Mste unentbehrlich ist. Wenn nun ein Ka-
^elfüllen eingeht, dann versiegt der Kamelin,
sA es gesäugt hat, die Milch. Die alten ara-
Achen Kommentatoren und Lexikographen
^'ssen über einen schlauen Kniff zu berichten,
Ar in einem solchen Falle die Beduinen an-
°Andten. Sie stopften die Haut des Füllens
At Stroh oder Gras aus und brachten sie in
A Nähe der Alten, um ihre mütterlichen Ge-
sichle wieder zu erwecken und damit den Milch-
ern von neuem anzuregen. Baum nannte
An eine solche Puppe.
Manchem unserer verehrten Leser wird beim
^ien dieses zoologischen Exkurses schon von
^'Ust eingefallen sein, worauf er abzielt. Weist
doch viele Züge auf, die eine überraschende
Ähnlichkeit mit dem haben, was die deutsche
Ärtschaft seit dem Kriegsende erlebt hat.
Ar viele Unternehmer haben ohne dies auch
Z°n die nahe Verwandschaft ihres Geschickes
Ä dem des Abu Aijub, des Hiobsvaters im
»Mstenlande am eigenen Leibe gespürt. Wie
A braves, treues, geduldiges Wüstenschiff
-A die deutsche Wirtschaft Staat und Volk
,?ch die Wüste der Nachkriegszeit hindurch-
Achleppt, buchstäblich hindurchgeschleppt unter
Mglichen Mühsalen und Entbehrungen. Jm-
neue Lasten hat sie sich aufbuckeln lassen
Nsen, und jemehr sie zusammenschrumpste,
A.A rücksichtsloser wurde ihr Euter ausge-
)Ackt. Es war ja nicht bloß eine Stelle, die
Melken besorgte: es wär vielmehr ein
Öliges Wettmelken, an dem sich das Reich,
^Lander, die Kommunen und zuletzt, aber
am wenigsten, die Gewerkschaften betei-
jAen. „Der Melker sind viele, aber der Hir-
A Nur wenige". Dieses alte arabische Sprich-
st, das ich schon einmal angeführt habe,
Ä'tzleichnet ausgezeichnet die Behandlung, die
deutschen Wirtschaft alle die Jahre über
s.Al geworden ist. Ueber die Frage, woher
der wackere Milchspender die Kräfte her-
- Allen soll, um dieses Gewaltmelken auszu-
.^Än,-zerbrach man sich nicht weiter den
ÄÄ- Von so einem Kamel ist man ja ge-
daß es sich selbst amWege die Nahrung
und mit Dornen und Disteln vorlieb
ANt. Zuweit verbreitet ist in Deutschland

die Vorstellung, daß Wirtschaftspolitik haupt-
sächlich im Melken besteht. Gegen diese com-
munis opinio konnten sich auch einsichtsvolle
Wirtschaftsminister bislang nicht durchsetzen.
Noch weniger aber konnte die Wirtschaft
selbst sich gegen diese rücksichtslose Ausbeutung
wehren. Der Umsturz, der die Herrschaft der
Zahl einleitete, hat die Wirtschaft zur poli-
tischen Ohnmacht verurteilt und zum Spielball
von Massenlaunen und -wünschen gemacht, die
von geschickten Drahtziehern zur Erreichung
ihrer machtpolitischen Ziele ausgenutzt werden.
Als es offenkundig wurde, daß das große
Tier „keine Galle hat", hat man ihm einen
Halfter angelegt, und an diesem Strick haben
Unwissenheit, Unverstand undEewissenlosigkeit
nach allen Richtungen hin weidlich herumge-
zerrt, nur nicht nach der richtigen Seite hin,
dem Weideplatz, wo das abgeschundene und
ausgemergelte Geschöpf sich endlich hätte erho-
len und wieder zu Kräften kommen können.
Und wie die schlauen Beduinen die Kamelin,
wenn sic milchmüde geworden, mit dem Bauw
nasführten und melkwillig machten, genau so
hat man es auch mit der deutschen Wirtschaft
gemacht. Als bei der Stabilisierung der Wirt-
schaft eine Steuerlast von einer früher für
undenkbar gehaltenen Höhe auferlegt wurde,
da wollte man sie über das Entsetzen mit der
Verheißung Hinwegtrösten, daß nach einer
kurzen Uebergangszeit der Steuerdruck fühlbar
gemildert werden würde: sobald die öffent-
lichen Finanzen wieder auf festen Füßen stän-
den, werde sofort die Entlastung der Wirt-
schaft erfolgen. Diese Verheißung — der da-
maligen Reichsregierung sicherlich ehrlich ge-
meint — hat sich schon bald als ein Bauw er-
wiesen, eine schön aussehende Haut, die nur
wertloses Gras und Stroh umhüllt. Die öf-
fentlichen Finanzen wurden saniert und der
aus der Wirtschaft gepreßte Geldstrom füllte
die Kassen der öffentlichen Hand bis zum
Ueberlaufen. Provision — profusion! Ange-
sichts dieses Ueberflusses vergaß man die Nöte
der Wirtschaft und das ihr gegebene Verspre-
chen. Je mehr man einnahm, desto mehr
glaubte man ausgeben zu dürfen. Sorglos
ging man an den Ausbau des Wohlfahrts-
staates und der Gemeinwirtschaft, träumte
von Deutschlands Weltgeltung auf dem Gebiet
der Sozialpolitik, beschäftigte sich mit allem
und jedem, nur nicht mit dem Notwendigsten,
der Senkung der Ausgaben und der Minde-
rung der Steuerlast.
Schließlich glaubte man wenigstens den be-
sonders empfindlichen und wirtschastsschäd-
lichcn Druck durch die Realsteuern ein wenig
vermrndern zu müssen und nahm deshalb in
die Finanzausgleichsnovelle vom 9. April 1927
die Bestimmung auf, daß Mehrerträge aus
den lleberweisungssteuern von den Gemein-
den zur Senkung der Realsteuern verwendet
werden Müssen. Diese Bestimmung war also
in voller Form „gesetzlich verankert". Aber bei
dieser Verankerung ist es auch geblieben: das
Schiff hat den ruhigen Hafen des Reichsgesetz-
blattes nie verlassen. Nirgendwo ist nämlich
diese Bestimmung ausgefllhrt worden: fast
überall wurde im Gegenteil dieSteuerschraube
noch stärker angezogen, und die Gemeinden
konnten sich dabei — zum Teil mit Recht —
darauf berufen, daß dieselbe Instanz, die sie
zur Steuersenkung verpflichten wollte, diese
Steuersenkung durch Auferlegung immer wei-
tergehender „zwangsläufiger" Ausgaben un-
möglich mache. Cs war also wieder ein echter
Bauw, mit dem die Wirtschaft genatrt.wor-
den ist, eine gleißende Attrappe. Schein ohne
Sein.

Das Paradestück dieser Gaukelei ist dre
sagenhafte Finanzreform, über die seit Jahr
und Tag so viel geredet und geschrieben wor-
den ist. So oft der braven Kamelin, auf de-
ren Rücken alles lastet und deren Euter die
Milch für alle zu spenden hat, die Kraft und
der Lebensmut ganz auszugeyen drohte, schob
man ihr diesen Bauw unter die Nase, damit
sie daran schnuppern und sich an dem wohl-
feilen Duft einer besseren Zukunft beleben
könne. Im verflossenen Jahre schien endlich
die Einführung des Poung-Planes mit seinen
finanziellen Erleichterungen Anlaß zu geben,
die Sage zur Wirklichkeit werden zu lassen.
Als dann endlich Herr Hilferding seine Vor-
lage herausbrachte, konnten ihr selbst die
wohlwollendsten Kritiker nur das Zeugnis ge-
ben, daß sie höchstens einen bescheidenen Vor-
schuß auf eine zukünftige Finanzreform und
eine ungenügende Verlagerung der Lasten
von der Produktions- und Kapitalseite auf
die Verbrauchsseite darstelle. Immerhin war
für das erste Jahr eine Senkung der direkten
Steuern um rund 900 Millionen vorgesehen,
der eine Steigerung der indirekten um 400
Millionen gegenüberstand. Aber auch das war
eine Seifenblase. Herr Hilferding hatte sich
um einige Kleinigkeiten verrechnet und vor
allem die Ausgabenseite völlig vernachlässigt.

Indische
Hierüber schreibt „Spitama" in der „Deut-
schen Bergwerks-Ztg." wie folgt:
In einem Sanskritvers, der im fünften
Buche des berühmten indischen Fabelwerkes
Pantschatantra steht, heißt es: „Mag man auch
noch so bewandert in den Schüstras (Lehr-
büchern, Theorien) sein — wenn man dabei
dem Gang des Lebens abgewandt ist, dann
macht man sich lächerlich', wie es die törichten
Pandits (Doktoren, Professoren) taten". Diese
törichten Pandits sind drei hochgelehrte Brah-
manen, die auf der Wanderung einen toten
Löwen finden und ihre Wissenschaft darauf
verwenden, ihn wieder lebendig zu machen.
Der Vierte im Bunde, ärmer zwar an Wis-
sen, aber reicher an gesundem Menschenver-
stand, klettert schließlich, als seine Warnungen
vor dem gefährlichen Experiment fruchtlos
bleiben, auf einen Baum und sieht von da
aus zu, wie die drei verbohrten Theoretiker
von dem Resultat ihrer Wissenschaftlichen Be-
tätigung aufgefressen werden. „Gesunder Men-
schenverstand (buddhi) ist besser als Gelehr-
samkeit (vidya)", das ist die Moral dieser Pa-
rabel. Damit soll natürlich nicht die Wissen-
schaft als solche herabgesetzt werden. Es sol-
len nur diejenigen Gelehrten getroffen wer-
den, die über ihrer Buchweisheit das Leben
vergessen haben und die vor lauter Gelehr-
samkeit das nicht mehr sehen können, was klar
und deutlich dicht vor ihren Füßen liegt. Daß
darin eine große. Komik liegst das können
gerade wir Deutschen am wenigsten dem indi-
schen Fabeldichter bestreiten. Haben wir doch
leider-besonders ausgiebig Gelegenheit, die
Richtigkeit seiner Beobachtung zu erleben.
Nirgendwo findet man so viele Exemplare
des weltfremden Grüblers, der den Boden der
Wirklichkeit unter den Füßen verloren hat,
wie bei (ins. Diese Schwäche ist schon vor hun-
dert Jahren dem scharfsichtigen Beobachter und
Kritiker Wolfgang Menzel aufgefallen. In
keinem Werke „Die deutsche Literatur" stellt
er fest: „Zu allen Zeiten waren die Deutschen

Das Defizit, das dann Dr. Moldcnhauer her-
ausrechnete, wuchs immer mehr und das Ende
vom Lied ist, daß vorab an eine Steuersen-
kung gar nicht zu denken ist. Es mußten im
Gegenteil neue Reichssteuern im Betrage von
einer halben Milliarde eingeführt und außer-
dem die Beiträge für die Arbeitslosenversiche-
rung heraufgesetzt werden. Gleichzeitig sind
auch die Länder und in besonders hohem
Maße die Kommunen mit dem altgewohnten
Andrehen der Steuerschraube beschäftigt. So
sieht in Wirklichkeit die Hilferdingsche Finanz-
reform aus. Ein Riesenbauw!
Die Wirtschaft ist jetzt so oft „gebauwl"
worden, daß ihre Elaubensfreudigkeit ziem-
lich aufgebracht ist. Das „Bauwen" ver-
fängt nicht mehr. Es bedarf der Taten. "NN
zu überzeugen. Das Kabinett Brüning ist sich
des Ernstes der Lage voll bewußt. Auch daran
ist nicht zu zweifeln, daß es die feste Absicht
hat, eine wirkliche Reform herbeizuführen, die
die Wirtschaft wieder zu Atem kommen läßt.
Das ist ohne kräftigen Abbau der Aufgaben
der öffentlichen Hand nicht möglich. Diesem
aber stellen sich gewaltige Hemmungen ent-
gegen, die nur rücksichtslose, eiserne Energie
meistern kann. Hoffen wir, daß das schwere
Werk diesmal gelingt und nicht auch wieder
als Bauw endet. Das wäre das Ende.


im .vrakrischen Leben, unbehilflicher als andere
Nationen. Am weitesten aber schweift (bei
ihnen) der Verstand hinaus ins Blaue, und
wir sind als Spekulanten und Systemmacher
überall verschrien. Indem wir aber unsere
Theorien nirgends einigermaßen zu realisie-
ren wissen als in der Literatur, so geben wir
der Welt der Worte ein unverhältnismäßiges
Uebergewicht über das Leben selbst, und man
nennt uns mit Recht Bücherwürmer und Pe-
danten." Und weiter bemerkt er: „Kaum
gehen wir einmal aus dem Traum heraus und
erfassen das praktische Leben, so geschieht es
nur, um wieder in das Gebiet der Phantasie
und der Theorie zu ziehen."
Es liegt auf der Hand, daß eine solche Nei-
gung zum Ausspinnen vo^r Theorien, die nicht
aus dem Boden der Wirklichkeit herauswach-
sen, sich sehr unheilvoll auswirkt, wenn sie sich
auf lebenswichtigen Gebieten betätigt. Das
hat zu ihrem größten Schaden die deutsche
Wirtschaft erfahren, die in der Nachkriegszeit
buchstäblich zum Tummelplatz eines ebenso ak-
tiven wie unfähigen Dilettantismus gewor-
den ist. Wie Pilze sind Theorien aufgeschos-
sen, um alle die Vernunft- und erfahrungs-
widrigen Eingriffe und Mißhandlungen zu
„begründen", die das Wirtschaftsleben über
sich hat ergehen lassen müssen. Hat die eine
Theorie sich endlich in der Praxis selbst ad ab-
surdum geführt, dann taucht sogleich eine
andere oder gar mehrere als Ersatz auf. Der
schlammige Strom des Irrtums, der sich ver-
wüstend über die ausgepowerten Gefilde der
deutschen Wirtschaft ergießt, scheint kein Ende
nehmen zu wollen. Alle diese Theorien kran-
ken an der gleichen Erdferne: ihr gemein-
samer Vater ist der Wunsch und ihre gemein-
same Mutter die Unkenntnis des praktischen
Lebens. Selbst für den Unsinn, daß nicht
Sparsamkeit, sondern Verschwendung reich
mache, hat man „Gründe" gefunden! Wie viel
kostbare Kraft und Zeit mußte auf die Wider-
legung dieser fadenscheinigen Gründe und
 
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