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Heidelberger Bürger-Zeitung: Mittelstands-Zeitung ; unabhängiges Kampfblatt für die Interessen des deutschen Mittelstandes: Heidelberger Bürger-Zeitung: Mittelstands-Zeitung ; unabhängiges Kampfblatt für die Interessen des deutschen Mittelstandes — 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.42441#0243
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7kr. SS

Sonntag, 21. September

Jahrgang 193«

MelMIM-mWWe Wlniiz
Zeitung für gesunde Wirtschaftsinteressen des gewerblichen
Mittelstandes, des Handwerks, Handels, Haus- und Grund-
besitzes, der Landwirtschaft, freien Berufe und aller sich zum
Mittelstand rechnenden Kopf- und Handarbeiter.

Geschäftsstelle:
Heidelberg, Hauptstraße 10«

Mittelstands-Zeitung
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Bezugspreis monatlich 0,60 Reichsmark. Bei Postbezug
vierteljährlich 2,10 Reichsmark. Für ausgefallene Nummern
wird kein Ersatz geleistet. Der Jnsertionspreis ist 10 Reichs-
pfennig für die achtgespaltene Millimeterzeile oder deren
Raum. Reklamen 0,40 RM. pro mm-Zeile.

*

Parteien

Man sieht, die Mistgunst des Wählers hat
Lei verschiedenen Parteien arge Verwüstungen

Am 13. Oktober.
Nach Mitteilungen von gut unterrichteter
Seite wird der neue Reichstag am 13. Oktober,
> also am letzten Tage vor Ablauf der verfas-
sungsmästigen Frist, zum ersten Male zusam-
mentreten.

Wie und wo unterbringen?
Zu der Frage, wie man die neuen 80 Abge-
ordneten im Plenarsaal unterbringen kann,
erklärt der Direktor des Reichstages, Geheim-
rat Galle, u. a.: Es lassen sich natürlich auch
für 576 Abgeordnete die nötigen Plätze schaf-
fen. aber das würde umfangreiche Bauarbeiten
erfordern, die mindestens ein Vierteljahr in
Anspruch nehmen. Ohne Einbeziehung von
Tribünen dürfte es nicht möglich sein, die Ab-
geordneten unterzubringen. Die Verwendung
der Tribünen für Abgeordnete ist in England
schon lange der Fall. Eine weitere Möglichkeit
wäre, die Estraden für die Regierungsbänke
zurückzuverlcgen. Ursprünglich war der Reichs-
tagssitzungssaal nur für 379 Plätze eingerichtet,
da diese Zahl vor dem Kriege verfassungs-
mästig feststand.

Das ist die groste Frage: Wie wird die neue
Reichsregierung aussehen? Es gibt zwei Kom-
binationen: eine Regierung vom Zentrum bis
zu den Nationalsozialisten, an der sich zur Er-
langung einer tragfähigen Mehrheit auch die
Deutsche Volkspartei, die Deutschnationalen,
die Wirtschaftspartei, die Landvolkpartei und
die Konservative Volkspartei beteiligen müst-
ten. Die andere Möglichkeit wäre eine Re-
gierung mit Sozialdemokraten, Zentrum, Deut-
scher Volkspartei, Staatspartei, Wirtschafts-
partei, Bayerischer Volkspartei und Bauern-
bund. Ob es aber gelingt, die Wirtschaftspar-
tei mit den Sozialdemokraten in eine Regie-
rung zu bringen, ist nach der programmati-
schen und weltanschaulichen Einstellung beider
Parteien mehr als fraglich. Trotzdem must die
Arbeitsfähigkeit dieser Reichsregierung unter
allen Umständen sichergestellt werden, denn
eine nochmalige Neuwahl würde kein wesent-
lich anderes Ergebnis zeigen. Dazu kommt,
Last wir keine Zeit zu verlieren haben. Die
Finanznot des Reiches ist enorm, und nur eine
starke Regierung, auf sicherer parlamentarischer
Basis aufgebaut, wird in der Lage sein, die
Schwierigkeiten zu meistern.
*

Schwere politische Entscheidungen stehen be-
vor. Das deutsche Volk sieht mit Vertrauen
auf seinen ehrwürdigen Reichspräsidenten, in
dessen Hand es liegt, dieNeubildung derReichs-
regierung vorzunehmen.

Eine Reihe von Gesetzen und Gesetzentwür-
fen wartet auf Erledigung durch den neuen
Reichstag. Das Fettgesetz wird zweifellos —
vorausgesetzt, Last Schiele Rcichsernährungs-
minister bleibt — erneut den Parteien präsen-
tiert werden. Schiele wird dabei, wie schon
früher, die Unterstützung der fleischergewerb-
lichen Vertreter im Reichstag finden. Ob die
Steuernotoerordnungen des Kabinetts Brü-
ning (Veamtennotopfer, Ledigensteuer, Schank-
verzehrsteuer, Kopfsteuer usw.t in Kraft blei-
ben. wird sich bald Herausstellen. Eine Auf-
hebung dieser Notverordnungen ist unwahr-
scheinlich, weil sich diejenigen Parteien, die
hinter der augenblicklichen Reichsregierung
stehen, für die Notverordnungen ausgesprochen
haben' und dies zweifellos von jeder Partei
verlangen würden, die neu in die Reichsregie-
rung eintritt.

antimarxistisch: wenigstens in diesem Punkte
sind die Erwartungen in Erfüllung gegangen:
man sollte ihnen deshalb konsequenterweise
Rechnung tragen.
Die nächste praktische Aufgabe, vor die der
Reichstag sich gestellt sieht, wird die Stellung
zu den wirtschaftlichen und sozialpolitischen
Notverordnungen sein: ohne sie ist die öffent-
liche Finanzwirtschaft, die ohnehin schon durch
die ständigen Steuerrückgänge bedroht ist, er-
ledigt. Hier sich zeigende Unterschiede in der
Auffassung der staatspolitischen ^Verantwort-
lichkeit können auf den weiteren Fortgang der
Dinge nicht ohne Rückwirkung bleiben. Da-

rüber hinaus hat die Wirtschafts- und Finanz-
krise eine politische Situation erzeugt, die eine
.weltanschauliche" Auseinandersetzung unbe-
dingt notwendig macht. Diese Auseinander-
setzung wird entscheidend beeinflustt werden
von der Volksschicht, der es gelingt, die Füh-
rung zu bekommen. Es handelt sich hier um
außerordentlich groste politische und ideologi-
sche Werte: es sei nur darauf verwiesen, Last
der politischenRadikalisierung des Bürgertums,
die in diesen Wahlen zum Ausdruck gekommen
ist, unter Umständen auch eine solche wirt-
schaftlicher Art folaen kann.

ungerichtet. Daran konnte auch ein Wahlkampf
nichts helfen, der es an „Aufklärung der brei-
ten Masse" wirklich nicht fehlen liest. Ver-
gebens suchte man bei dieser Verlust- und Sie-
gesliste nach einer Möglichkeit für die Neubil-
dung der Reichsregierung.

Die kommenden Fehlbeträge
derösfeMl. Körperschaften.
Bei Fortdauer der jetzigen Lage werden
am Ende dieses Haushaltjahres die Fehlbe-
träge der öffentlichen Körperschaften auf min-
destens 1,5 Milliarden RM (mit Einschuß der
halböffentlichen Reichsbahn auf 2 Milliarden
RMj sich belaufen.
Das Konjunkturforschungsinstitut rechnet
im Reichsetat mit einem Fehlbetrag von 385
Mill. RM bis Ende des Rechnungsjahres und
-mit einem noch zu deckenden Steuerausfall von
rund 300 Mill. RM. Diese Schätzung ist ziem-
lich optimistisch: denn auf der Grundlage der
Steuergesetzgebung des vorigen Jahres lag al-
lein im Juli das Steueraufkommen um rund
70 Mill. RM unter dem des Vorjahres. Zu
dem Unsicherheitsfaktor desEinnahmerückgangs
kommt noch ein anderer infolge der Zuschuß-
pflicht des Reiches zurArbeitslosenversicherung.
Auch unter Berücksichtigung der Notverord-
nung muß mit einem zusätzlichen Reichszuschuß
von 200 Müll RM gerechnet werden: dabei
ist Voraussetzung, daß mittels dieses Zuschusses
die Beiträge und etwaigen Leistungskürzungen
in tragbaren Grenzen gehalten werden können.
Da Länder und Gemeinden an der Einkom-
mensteuer zu 7M beteiligt sind, bringt schon
der hier eintretende Rückgang in deren Ein-
nahmen einen starken Unsicherheitsfaktor, der
durch die den Gemeinden überwiesene Kopf-
und Getränkebesteuerung nicht ausgeglichen
werden kann, zumal das sogenannte „Sozi-
aldefizit" aus der Wohlfahrtpflege schon jetzt
aus 500 Mill. RM geschätzt werden muß: da-
bei werden vermutlich im Laufe dieses Win-
ters rund 750 000 bis 1000 000 Empfänger
von Wohlfahrtsunterstützung von den Gemein-
den unterhalten werden müssen. Auch die
Finanzen der Sozialversicherung sind in hohem
Grade von denen des Reiches abhängig: die

Nach den amtlichen Ergebnissen setzt sich
der neue Reichstag wie folgt zusammen:
Mandatsverteilung

keichrtagrwahlen und Ausblick

TirWast und Wahlen.
Der Sinn der Wahl liegt im Wirtschaftli-
Aen begründet. Der jetzige Reichstag sieht
bch vor die Entscheidung gestellt, ob künftig
ü Deutschland der sozialistische oder der pri-
Mtwirtschaftliche Gedanke der ausschlaggebende
Mlk soll. Politische Dinge und politische Ent-
Aeidungen werden natürlich auch von wesent-
licher Bedeutung sein: zunächst kommt es aber
Darauf an, durch Bereinigung der Wirtschafts-
old Finanzkrise die Staatskrise, die ohne diese
Bereinigung unvermeidlich ist,aL,zubiegen. Das
faktische Ziel der nächsten Monate besteht in
Versuch, die finanziell und wirtschaftlich
Notwendigen Reformmastnahmsn so schnell
Md so gründlich wie möglich durchzuführen.
dZkür ist aber ausschlaggebend, ob nach sozia-
^tischen oder privatwirtschaftlichen Erundsät-
'M gehandelt wird. Nach den bisherigen Er-
klungen ist sicher, daß der Sozialismus der
orschiedenen Schattierungen Sozialismus ist
ihd bleibt. Abgesehen von seiner grundsätz-
lichen Einstellung kann der Sozialismus die
Mr Bereinigung der Wirtschafts- und Finanz-
ilrse notwendigen Maßnahmen aber schon des-
Mb nicht durchführen, weil ihm dafür die
chnereCtürke fehlt, zumal die Wahl und das
Mr die S. P. D. reichlich negative Ergebnis
"d-'eifellos zu einer verschärften Radikalisie-
chüg führen wird. Parteien wie die sozialis-
Bche, die ihre ganze Ideologie und Agitation
^Zr bestreiten von der Erhebung gesteigerter
ZÜsprüche, können unmöglich den Wählermas-
denen diese Ansprüche seit Jahrzehnten in
Aussicht gestellt worden sind, Verzichte zuinu-
,M. Der Sozialismus, der mit allen Mitteln
Klassönkampfes das Volk in einzelne
Klassen" austeilt, kann niemals staatserhal-
^Ud upd staatsbejahend sein. Aus diesen
Sünden mußten auch die bisherigen Versuche,
Zit dem Sozialismus Staatspolitik zu treiben,
Zhlschlagen: diese Versuche konnten nur so-
iüge gelingen, wie durch Steigerung der Aus-
senwirtschaft die Gunst des Wählers erhal-
werden konnte: als dieseMethode als nicht
Zohr durchführbar sich erwies, mußten Gegen-
Me eintreten, die zunächst jede konsequente
s>Mtik lähmten und die dann in der weiteren
Mge grundsätzliche Unterschiede auch weltan-
Attulicher Art aufzeigten, die jetzt irgendeine
. Migangsmöglichkeit zwischen „sozialistischer"
r Id „bürgerlicher" Auffassung als ausgeschlos-
erscheinen lassen. Falls eine Koalition
ZZ dem Sozialismus zustande käme, würde
Nur dazu dienen, den „bürgerlichen" Par-
, 'M die Verantwortung für unpopuläre Mast-
.MLmen zu überlassen, diese Parteien aber so-
aus d^. Staatsführung ausschalten, wenn
h r wirtschaftliche und finanzielle' Wiederauf-
gelungen ist. Diese Taktik wird schon
- Fanz bewußt verfolgt: das in den frühe-
Jahren für den Sozialismus so erfolgrei-
y E Spiel des Genusses der Arbeit anderer soll
in diesem Fall wiederholt werden.
„ Der Wahlkampf hat nur dann einen Zweck
s., Mbt. wenn er die Möglichkeit einer Regie-
schafft, die das notwendige Programm
d? Gesundung der Wirtschaft und Finanzen
h.Wührt. Wer dieses Programm mitmachen
ksollte darin einbezogen werden und will-
llMen sein. Diese Feststellung sollte auch
HpZM für die Partei, die bei den jetzigen
^Mhlen den stärksten Erfolg erzielt hat und
sich ^swegen nach parlamentarischen Erund-
"Mw Regierungsführung einbe-
diü n werden müßte. Zielsetzung und Ergeb-
des Wahlkampfes waren ausgesprochen

Seit Sonntag haben wir nun ein neues
Reichsparlament! Völlig ungehindert, geheim
und unbeeinflußt, haben 35 Millionen Men-
schen in der Wahlzelle ihre Kreuze in die
Kreise gezeichnet, die sich ihnen in verschwende-
rischer Zahl und oft mit lockenden Firmen-
titeln vor die Augen drängten. Wie ein Auf-
atmen geht es durch das deutsche Volk nach die-
sen aufregenden Wochen häßlichen Kampfes,
persönlicher Verleumdung, nach diesen Ausein-
andersetzungen mit Knüppeln und Revolvern,
mit Geist um> Muskeln, Druckerschwärze und
Blechmusik. Ein Wahlkampf ist ein schmutzi-
ges Geschäft. Rur wenige der Nächstbsteiligten
bewahrten sich in diesen gottlosen Wochen
reine Hände
Wir haben wieder einen Reichstag. Er ist
größer und umfangreicher als derjenige, den der
Reichskanzler Brüning wegen schlechter Lei-
stungen nach Hause geschickt hat. Aber nicht nur
zahlenmäßig unterscheidet er sich von seinem
Vorgänger, sondern, und das ist unendlich viel
wichtiger, auch in der Zusammensetzung seiner
Parteien. Eine Revolution, so wie wir sie
Sonntag innerhalb der politischen Gruppen
erlebt haben, konnte man seit der politischen
Ilmwälzung im Jahre 1918 nicht mehr ver-
zeichnen. Parteien, noch vor wenigen Wochen
im Reichstag hoch zu Roß, selbstgefällig und
unnahbar, diktatorisch ihre Forderungen an-
meldend, sehen wir heute klein und bescheiden
mit der Hälfte ihrer früheren Abgeordneten-
zahl in den Reichstag schleichen. Wieder andere
haben sich' fast verzehnfacht, und die Splitter-
gruppen beendeten wieder einmal, vorläufig
Lis zur nächsten Wahl, ihren Diäten-Traum.

Sozialdemokraten
143
s153)
DeutsHnat. Volkspartei
41
s 73j
Zentrum
68
( 61t
Kommunisten
76
f 54t
Deutsche Volkspartei
29
l 45t
Deutsche Staatspartei
20
s 25 Dem.t
Wirtschaftspartei
23
( 23t
Bayerische Volkspartei
19
s 16t
Nationalsozialisten
107
f 12t
Deutsches Landvolk
18
s 13t
Volksrechtspartei

( 8t
Deutsche Bauernpartei
6
( 3t
Landbund
3
( -t
Konservative Volkspartei
5
( -s>
Christl.-Soz. Volksdienst
14
( 4t
572
(490t
 
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