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Jahrbuch Mannheimer Kultur — 1.1913(1914)

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Weiß, Otto: Wer ist musikalisch?
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https://doi.org/10.11588/diglit.68760#0124

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Dr, Otto Weiß

Welt und aller Leidenschaften und Affekte „in abstracto“. Das „in
abstracto“ hat viele Musiker geblendet; sie beten Schopenhauers Lehre
nach und meinen, wunder welche Weisheit in ihr stecke. In Wirklichkeit
mag jene Anschauung bei aller Programmusik, bei der dramatischen Musik,
in der Vokal- und in der Kirchenmusik in wechselndem Maße ihre Berech-
tigung haben. Wer aber in reine Kammermusik und in reine Instrumental-
musik, also in die sogenannte absolute Musik, derartige Anschauungen
hineinträgt, der bringt nicht, wie er meint, musikalischen Inhalt hinein,
sondern heraus. Was er hineindenkt, ist nur etwas Unmusikalisches, Ge-
wiß ist es richtig, daß auch diese reine Musik in der Regel der Ausdruck
einer Stimmung sein wird, aber nicht einer Stimmung in abstracto, sondern
nur der Stimmung ihres Schöpfers, Und diesem selbst tut man bitter
Unrecht, wenn man glaubt, er beabsichtigte, seine Stimmung darzustellen.
Nichts will er darstellen, er will nur Musik gebären. Ich kann da nur
das außerordentlich treffende vergleichsweise Beispiel Hanslicks an-
führen, daß die Rose duftet, aber nie und nimmermehr den Duft der Rose
darstellt. Wer also in der absoluten Musik nur derartige außermusikalische
Assoziationen sucht und findet, der ist auf einem Irrwege, Er gelangt noch
nicht einmal in den Vorhof des Tempels, er bleibt auf der Treppe, Er
tut dabei auch noch den Schöpfern der Programmusik im weitesten Sinne
des Wortes unrecht, denn er übersieht, daß nur diejenige Programmusik
von Bestand ist, die nicht lediglich musikalisch malt, sondern auch inneren
Musikwert hat.
Eine weitere Klasse von Musikhörern hält das aufmerksame Ver-
folgen der musikalischen Form für das rechte Hören. Billroth und Jadas-
sohn, vielleicht auch Hanslick — der Schlaue spricht sich nicht ganz
deutlich aus — scheinen mir Anhänger dieser Meinung zu sein. Sie
mögen darin recht haben, daß Lehrer der Musiktheorie — aber beileibe
nicht alle Musiker — so hören, weil die stete berufliche Beschäftigung
mit der musikalischen Form für sie das stete bewußte Beobachten des
Formellen am Kunstwerk zu etwas Natürlichem und Selbstverständlichem
macht. Zum musikalischen Hören gehört aber derartiges nicht notwendig;
es zieht im Gegenteil den Hörer vom eigentlich Musikalisch-Schönen ab.
Wer beim Hören einer Bachschen Meisterfuge oder einer Beethovenschen
Symphonie mit bewußter Überlegung den formellen Aufbau verfolgt, dem
entgeht viel von der Schönheit dieser Werke, Oder wer beim Anhören
musikalischer Höhepunkte in Wagnerschen Musikdramen nur darauf
achtet, welche und wie viele Motive an den betreffenden Stellen zusam-
mengebaut sind, an dem rauscht ihre gewaltige musikalische Wucht un-
gehört vorbei, Oder wer endlich beim Hören, neben dem formellen Auf-
bau, auch noch die harmonische Struktur, oder auch nur diese allein, zu
verfolgen bemüht ist, der wird immer einmal an einen Punkt kommen,
wo es ihm bei dem eiligen Vorüberhuschen der Töne nicht mehr möglich
ist, den eben gehörten Akkord als diejenige Harmonie, die er im Rahmen
des Werkes nach den Regeln der Harmonielehre darstellt, auch wirklich
genau zu erkennen. Er wird z, B, einen hartverminderten Dreiklang im
 
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